Aqua – Aufbruchsstimmung
Eine Reise mit der „Autostadt“ Wolfsburg als Ziel geht bei mir immer mit der Vorfreude auf mehrere Annehmlichkeiten einher. Im Vordergrund steht natürlich das Essen im Restaurant Aqua, über das ich schon häufig enthusiastisch berichtet habe, und das für mich nach wie vor zu den besten und spannendsten in Deutschland zählt. Doch ein Aufenthalt im Hotel Ritz-Carlton, welches das Restaurant Aqua beheimatet, steht immer auch für ein Gesamterlebnis. Das Hotel ist geschmackvoll und modern gestaltet, alle Einrichtungen bieten höchsten Komfort, jeder hier ist freundlich und kompetent … Aber das ist es nicht mal. Es ist dieser einzigartige Ort. Ein Ort, an dem weder das Meer noch pittoreske Landschaften noch der pulsierende Charme einer Großstadt die Bühne ist, sondern an dem eine stille, fast leblos und genau deshalb reizvolle Kulisse aus Hightech und Industrie einen umgibt.
Wenn man draußen im beheizten 40-Meter-Pool seine Bahnen zieht, die stillen Schornsteinschlote des alten VW-Werks vor einem emporragen und etwas weiter im Hintergrund ein ICE mit voller Geschwindigkeit vorbeirauscht – aus der Distanz auch fast geräuschlos –, dann hat das was. Deutsche Hochtechnologie ist mit einem Spitzenrestaurant nirgends enger verwoben als hier.
Küchenchef Sven Elverfeld, der in beachtlich kurzer Zeit drei Michelin-Sterne erkocht hat und diese seit Jahren erfolgreich hält, zähle ich ebenfalls zu den Akteuren, die mit deutscher Wertarbeit zu tun haben. Seine Wirkungsstätte ist zwar keine Fabrikhalle, aber die Tugenden seines Schaffens sind ebenfalls typisch deutsch, und zwar im bestmöglichen Sinn: Fleiß, Präzision, Qualität, Beständigkeit. Made in Germany: das ist längst auch ein Garant für innovative Spitzenküche, zumindest auf diesem allerhöchsten Niveau der Gastronomie. (Dass es darunter völlig anders aussieht, steht auf einem anderen Blatt.)
Ich war jetzt schon länger nicht mehr hier, neunzehn Monate, um genau zu sein, und bin gespannt, wie die hochkreative (und immer köstliche!) Küche von Elverfeld sich weiterentwickelt hat.
Gegen halb acht betrete ich das schlicht in Grautönen gehaltene Restaurant, sitze an einem Tisch vor der Fensterfront und genieße als allererstes den herzlichen Empfang des Nordfranzosen Jimmy Ledemazel, der für mich zu den besten Gastgebern überhaupt zählt. Er ist herzlich, authentisch, witzig und charmant, etwas quirlig und eigentlich immer guter Laune. Jimmy ist ein unverzichtbarer Gegenpol zur restlichen Sachlichkeit des Restaurants. Nach meinem Dafürhalten könnte auch der Rest der Belegschaft manchmal noch etwas weniger förmlich agieren, dann wäre man von einer international üblichen Lockerheit in der Spitzengastronomie nur noch wenig weit entfernt. Andererseits: wozu sich mit anderen messen? Das Aqua ist einzigartig genug.
Das zeigt sich wie üblich schon zu Beginn mit den „Einstimmungen“. Die kleinen handwerklichen Meisterstücke bieten allesamt auf jeweils kleinstem Raum komprimierten Hochgenuss und sind für mich längst zum Maßstab für Amuse-Bouches geworden. Selbst auf diesem Niveau der Gastronomie können sich in dieser Hinsicht nur wenige Restaurants mit dem Aqua messen.
Das ausgiebige heutige Menü („9“ Gänge, € 230) beginnt mit Sardine, Räuchermandel-Knusper und Ailoi; Büsumer Krabben, Algen und Sauce Remoulade und Jakobsmuschel-Kropek, Salsa Verde und Quinoa. Auch wenn nicht alle Kreationen die Perfektion erreichen, die ich hier in Erinnerung habe, geht es bei meiner Empfindung nur um Nuancen auf höchstem Niveau.
Und spätestens mit dem Burger „orientalisch“ mit Gewürzlamm, Joghurt, Datteln, Hummus bin ich drauf und dran, das Gericht nachzubestellen, doch in Anbetracht des noch bevorstehenden Marathons verzichte ich auf diese Frivolität.
Die Gelbschwanzmakrele – gebeizt und lauwarm, mit Salzpistazien und roter Gemüse-Erdbeer-Salsa bewegt sich wegen einer markanten Schärfe interessanterweise in einer ganz ähnlichen Geschmackswelt wie der Burger und begeistert gleichermaßen.
Als etwas unausgewogen, weil zu „massig“, empfinde ich dagegen Blauer Hummer „Thai Spice“, Kokos und Waffel, obwohl die von Koriander und Krustentierfond dominierte Geschmackswelt ein absoluter Volltreffer ist.
Der erste eigentliche Gang des Menüs ist dann gleich eines dieser kulinarischen Paradoxa, über die man im Aqua gerne stolpert. Paradox ist es immer dann, wenn die Interpretation eines Klassikers mitunter besser oder interessanter schmeckt als das Original: in diesem Fall Saltimbocca, hier serviert als Rohfleisch vom Kalbsfilet mit Parmaschinken, Parmesan, Salbei und Reis. Das Gericht ist exzellent: leicht und kühl, dabei dennoch kraftvoll und herzhaft – und hundertprozentig für den unkomplizierten Genuss geeignet!
Der nächste Gang, Flusskrebse, grüner Spargel, Blutwurst, Bärlauch, Sauerampfer und Savora-Senf wirkt dagegen ungewöhnlich unausgewogen für ein Gericht aus diesem Haus. Trotz unverkennbarer Raffinesse – und Qualität aller Komponenten – probiert man sich hier eher durch Saucen, Cremes und Schäumchen. Nichts für die Erinnerung.
Es geht weiter mit Bachsaibling und sein Kaviar aus Tainach mit Kopfsalat, Champignons und Haselnuss. Seit einem denkwürdigen Gericht mit Huchen – auch hier im Aqua und auch aus Tainach –, assoziiere ich das mir vorher nicht geläufige österreichische Dorf jetzt immer unweigerlich mit höchstem Fischgenuss. Mit der Erkundung dieses Tellers taucht man ein in eine fabelhafte Geschmacks- und Erlebniswelt von knackig frischem Kopfsalat, Erdnuss, rohen Champignons und einem leicht gegarten Saibling von makelloser Qualität. Ein sensationelles Gericht. Ach, Tainach!
Die nächste Kreation lautet auf die Beschreibung Petersilienwurzel, Kartoffel und Sauerklee und wird serviert mit Räucherforellen-Fumet, gedämpftem Eigelb und Osietra-Kaviar. So wohlschmeckend das klingt – gerade die Kombination Ei/Räucherforelle/Kaviar lässt eine cremige Herzhaftigkeit vermuten –, „schwimmt“ das Gericht etwas: die Komponenten ergeben zusammen nichts von nennenswerter Spannung. Auch mit Salz hat es hier jemand etwas zu gut gemeint.
Der etwas zu salzige Eindruck setzt sich auch beim nächsten Gericht fort und lässt für Calamaretti und Bouchot-Muscheln mit Safran-Curry-Fond, Anchovis, Zwiebelcreme, Kapern, Ei, Dill und Pinienkernen keine Perfekte Wertung zu. Hervorragend ist das Gericht aber allemal. Allein der betörende Duft, der dem heißem Teller entströmt, unterstreicht das Niveau, auf dem wir uns bewegen. Schön ist auch der Akzent mit dem Dill, der das Gericht gekonnt ausbalanciert.
Odenwälder Schnecken mit Frankfurter Kräuter-Sud, Mark-Emulsion, Duxelles und Schneckenkaviar lenken das bisher eher fischlastige Menü nun in eine herzhaftere Richtung. Das köstliche Gericht, das Heston Blumenthals „Snail Porridge“ ähnelt, begeistert hier durch den Einsatz von Schneckeneiern, von denen ich bis heute gar nicht wusste, dass sie sich als Delikatesse eignen. Hier steuern sie eine interessante Textur, kühle Frische und eine (gar nicht weiter erforderliche) Salzigkeit bei. Entweder habe ich heute eine Salz-Überempfindlichkeit, oder einer der Köche ist über beide Ohren verliebt. Man gönne es ihm oder ihr, dennoch verlassen heute einige Gerichte ungewöhnlich unpräzise abgeschmeckt den Pass. Das ist kein Drama, aber etwas auffällig.
Es gibt weiter: Schweinekinn mit Soja-Puder und Räucheraal, dazu Kimchi, fermentierter Rettich, Gurke und Yuzu. Das grell in Rot und Grün leuchtende Gericht ist makellos. Zart schmelzendes, würziges Fleisch geht mit den frischen Aromen von Gurke und Yuzu sowie dem rauchigen Aal eine betörende Liaison ein.
Und da ich mich im Aqua immer gern einem besonders üppigen Menü hingebe, ist noch lange kein Ende in Sicht. Im Gegenteil, der Wattenheimer Riedgockel ist das Thema von gleich zwei weiteren Tellern. Auf dem ersten geschmorte(!) Brust in einem begeisternd mediterran anmutenden Arrangement mit, unter anderem, Tomaten, Zitrone, Feta und Basilikum, und auf dem zweiten Teller Fleisch von der Keule mit einer deutlichen Präsenz von Olive: beides fabelhaft! Gerade der erste Teller ist herrlich „süffig“ und unverkopft, davon könnte man einfach eine ganze Schüssel in die Tischmitte stellen, sodass sich jeder davon nehmen kann.
Schließlich übernimmt die Patisserie. Diese versucht sich zunächst mit „Ei(n)-Malheur“ an einem ironischen Wortspiel, doch das Gericht mit „Dulcey“-Schokolade, Eierlikör, Blätterkrokant, Staudensellerie und Granny Smith entpuppt sich für mich als tatsächliches Missgeschick. Das direkt vor mir auf den Teller fallen gelassene Milchschokoladenei bringt außer einem kleinen Lacher keinerlei kulinarische Satisfaktion. Auch die Aneinanderreihung von überwiegend säuerlichen Komponenten daneben wirkt unpassend. Das ist überhaupt nicht im Aqua-Stil, kommt aber vermutlich bei den meisten Gästen aufgrund der „witzigen“ Präsentation gut an. Man sollte es deutschen Gästen manchmal einfach weniger rechtmachen.
Das süße Finale überzeugt dann wieder auf ganzer Linie. Kirsche, Kirschholz und Kamille bietet süß-fruchtigen Dessertgenuss in perfekter Balance, ein „Hugo“ mit Holunder, Minze, Limette sorgt für eine schöne Frische, und der Macaron „Campari-Orange“ ist fast auf dem Niveau meiner Referenz-Macarons im Epicure.
Bei ein paar unverschämt guten Pralinen sinniere ich noch über dieses Essen. Irgendetwas hat sich verändert in der Küche Elverfelds, das ich nicht benennen kann, aber verdammt noch mal mag. Denn wenngleich dieses Menü ein paar mehr Kanten aufwies als viele zuvor, sind es eben genau solche, die einer Sache Persönlichkeit verleihen. Ein bisschen Aufbruchsstimmung konnte ich in manchen Tellern schmecken, so, als würde man von einem Achttausender zum nächsten losziehen. Ich bin zwar kein Bergsteiger, aber da komme ich mit.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Aqua (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Sven Elverfeld |
Ort: | Wolfsburg, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 11.07.2015 |
Guide Michelin (D 2015): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |