WY – Mercedes’ Essklasse
Es ist Samstag. Ich checke aus im L’Air du Temps und fahre nach Brüssel, um mich auf eine Shopping-Tour für Schokolade zu begeben. Schon wenig später laufe ich mit Einkaufstüten von Godiva, Elisabeth und Pierre Marcolini durch die Straßen – inklusive Kühlakkus. Ein paar Stunden würden diese den frühlingshaften Herbsttemperaturen standhalten, so die Verkäufer. Es bleibt mir also genug Zeit für ein kurzes Mittagessen.
Umfangreich sollte es ohnehin nicht sein, denn heute Abend steht das Hertog Jan auf meiner Agenda, wo ich nachher zumindest einigermaßen hungrig einkehren möchte. Aber eine kleine Stärkung für die Fahrt darf es ruhig noch sein …
Da ich für heute Mittag keine Reservierung habe, rufe ich die Michelin-App zu Hilfe, und wie es der Zufall so möchte, ist ein neu besterntes Restaurant nur ein paar Hundert Meter von mir entfernt. Es hat nur zwei „gekreuzte Bestecke“ und weist damit auf ein vom Ambiente her unkompliziertes Restaurant hin. Damit fällt es in genau die gastronomische Kategorie, die bei uns zulande fast unbekannt ist. Und es hat auch noch an einem Samstagmittag geöffnet. Ich muss nicht einmal dort einkehren, um es jetzt schon gut zu finden.
Ein paar Minuten später habe ich das Ziel erreicht und staune nicht schlecht, als ich vor einem Autohaus von Mercedes-Benz stehe. Ein Showroom, wie man heute sagt, in welchem man Autos shoppen kann wie Schokoladenmuscheln bei Godiva. Und anstatt den Kunden mit Keksen und Cappuccino aus Kaffeevollautomaten abzuspeisen, baut man hier einfach gleich ein ganzes Restaurant ein. Da verdient man an den Leuten, die gerade kein Auto kaufen wollen, gleich noch mit. Sehr geschickt. Mit offener Küche, legerem Ambiente und niemand Geringerem als Bart de Pooter als Patron, in dessen Stammhaus Pastorale ich gerade zuvor noch exzellent Essen war. Ein netter Zufall!
Ich setze meine Schokoladen-Shoppingtüten ab und nippe wenig später an einem Glas Bollinger (€ 15), während ich zwei Gänge à la carte bestelle (Lunch € 32).
Das Ambiente ist genauso nicht nach meinem Geschmack wie es nach meinem Geschmack ist. Nicht nach meinem Geschmack ist sicherlich die Farbgebung (orange-weiße Wände, schwarzer Teppich, komische Stühle), aber – jetzt mal ehrlich – will man nicht mal genau so (nämlich modern und völlig ungezwungen) essen gehen? Ich schon! Wohnen muss ich hier ja nicht. Und eine S-Klasse wird später vermutlich auch nicht auf der Rechnung stehen. Aber ich lasse mich überraschen.
Als Amuse-Bouches gibt es zwei gelungene herzhafte Pralinen und eine leicht frittierte Muschel (moule croustillante) in einer orientalischen Geschmackswelt mit Marsala, Mango und Banane. Der Snack ist heiß (!), angenehm knusprig und herzhaft-exotisch. Alles richtig!
Meine Vorspeise ist Tintenfisch (Calmar) mit gegrillten Kartoffeln, Gurke, Fenchel und Dill. Sehr gut! Über die Souveränität und Unkompliziertheit, all dies mal eben in einem Autohaus aufzutischen, kann ich fast nur fassungslos den Kopf schütteln. Mehr davon! … Bis auf die Sauce, die mir hier zu sehr angedickt ist; eine verlockende Prise aus der Xanthan-Dose lässt grüßen.
Der Hauptgang ist Porc „Mangalica“ und bezeichnet das Fleisch einer ungarischen Schweinerasse, die hier mit Blumenkohl und einer Kaffeesauce serviert wird. Das Fleisch – wenngleich von guter Qualität – ist leider etwas trocken, der Blumenkohl zu bröselig, und auch hier sind die Saucen etwas zu stark angedickt. Aber trotz dieser eindeutigen Fehler blitzen hier Anspruch und Qualität auf, die ich lieber in etwas nachlässiger Form auf dem Teller habe als Mittelmaß in bester Ausführung.
Ein Espresso und ein paar süße Kleinigkeiten beenden mein kurzes, aber für die Bedürfnisse dieses Mittags zufriedenstellendes Mittagessen. Um es ganz klar zu formulieren: wer hier „typisch deutsch“ einkehrt – mit dem Anspruch an perfektes Essen und aufwändigen Service, nur weil der Michelin einen Stern vergeben hat –, der bleibe hier lieber fern. Doch wer, wie ich an diesem Samstag, völlig unkompliziert auf beachtenswertem Niveau essen möchte und zufällig gerade ein paar Hundert Meter entfernt ist: nichts wie hin. Es nimmt einem auch niemand übel, wenn man keinen Mercedes kauft.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | WY (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Guus van Zon |
Ort: | Brüssel, Belgien |
Datum dieses Besuchs: | 04.10.2014 |
Guide Michelin (BE/LUX 2014): | * |
Meine Bewertung dieses Essens |