Hertog Jan – versprochen ist versprochen
Ich weiß nicht so recht, wie ich beginnen soll. Vielleicht damit, dass mir ein Abend mit einem Essen bevorsteht, welches ich danach zu den besten zählen werde, die ich jemals erlebt habe. Natürlich, man mäßigt sich danach, beruhigt sich, lässt auf sich wirken, relativiert und differenziert. Doch die Erinnerung an den konstanten, höchstmöglichen, nicht abreißen wollenden Genuss jeder einzelnen Portion, die ich in diesem Restaurant am heutigen Samstagabend meinem Gaumen zuführen werde, wird niemals verblassen.
Und damit habe ich schon zusammengefasst, worum es mir immer schon ging und nach wie vor geht: um Genuss. Um Momente, in denen Genuss glücklich macht und man die Augen schließt, um noch mehr zu schmecken. Vielen geht es nur noch um Kompositionen, Texturen, „Handschriften“ und selbstverliebte Küchenchefs. Mir nicht. Ich will einfach nur gut essen. Mir ist auch egal, wer kocht und ob er oder sie da ist, und ob der Service „perfekt“ und wie hochwertig die Ausstattung des Restaurants ist.
Doch der Vollständigkeit halber: im Hertog Jan kocht Gert de Mangeleer, 37, und er ist an diesem Abend da, scheint überhaupt nicht selbstverliebt, kreiert geniale Kompositionen, hat ein perfektes, smartes Serviceteam und ein brandneues, schickes Restaurant in the middle of nowhere, mit feinster Ausstattung von Aesop bis Zwiesel, mit speziell fürs Restaurant entworfenen Weinkaraffen, feinstem Geschirr und sage und schreibe zwanzig völlig ausgebuchten Tischen, die den sachlich schlicht gestalteten Speisesaal in eine lebhaft pulsierende Genussoase mit lebendiger Atmosphäre verwandeln. Da bleibt einem glatt die Luft weg.
Aber was mich am meisten beeindruckt, sind die Gerichte der nächsten Stunden.
Zuerst wähle ich ein Glas Rosé-Champagner (hervorragend: André Clouet) und sehe mir Speise- und Weinkarte an, über die ich beide aus verschiedenen Gründen staune. So ist die Weinkarte in recht ungewöhnliche Rubriken unterteilt, die jedoch bei näherer Betrachtung frappierend nah an meinem eigenen Gedankengang sind, wenn es um die Auswahl einer Flasche geht: ist mir z. B. eher nach einem leichteren, frischen Wein wie vielleicht einem Sauvignon Blanc? Oder ist mir nach Riesling? Oder eher nach einem köperreichen Weißen? Nach Rosé oder fruchtigem Roten? Nach Pinot Noir? Oder nach einem körperreicheren Roten? Die Weinkarte ist weitestgehend in genau diese sinnvollen Abschnitte unterteilt. Meine Wahl fällt auf einen Pinot aus Kalifornien, einen 2008 Ojai Vineyards Ben Nacido (€ 110) aus Santa Barbara.
Die Speisekarte – abgesehen davon, dass sie große Lust in mir weckt, gleich endlich mit dem Essen zu beginnen – ist insoweit bemerkenswert, als sie die hochpreisigste ist, die ich außerhalb von Paris jemals gesehen habe. Fast ausschließlich dreistellige Hauptgerichte, das ist mal eine Ansage. Und zwar eine gute! Denn wer solche Preise aufruft, der leistet auch ein Versprechen.
Ob das gehalten wird, werde ich jetzt mit dem Menü „the broad discovery“ (€ 255) herausfinden.
Dies beginnt mit einer schnell getakteten Abfolge kleiner Amuses, die bereits ein großes Ausrufezeichen setzen. Jeder einzelne Snack ruft mir in Erinnerung, wie perfekt man Handwerk, Zutaten und Wohlgeschmack auf höchstmöglichem Niveau kombinieren kann.
Im Einzelnen: Cannelloni / Tomate – Kartoffel / Aubergine / Miso – Huhn / Erdnuss / Reis – Barbecue-Schinken – Gänseleber / Himbeere / Rote Bete – Kartoffel / Kaffee / Mimolette.
Bereits bei diesen sechs minutiösen Einstimmungen existiert nicht eine Nuance hinsichtlich der Perfektion und des Wohlgeschmacks. Dieser gewaltige Beginn des Menüs erzeugt dabei einen krimiähnlichen Spannungsbogen: die Tat ist jetzt nicht mehr umkehrbar … aber wie geht es weiter?
Und als mir dann ein warmes Tuch gereicht wird und die angenehme Wärme durch meine Hände fließt, schließe ich für einen Moment die Augen und spüre, dass ich genau hier, in diesem Moment, am richtigen Ort bin.
Der erste Gang des Menüs ist „collection of tomatoes 2014“, und in Anbetracht der grandiosen Frische, dem Spiel zwischen Süße und Säure und dem intensiven Aroma der Prachtexemplare könnte ich meine Augen einfach genüsslich geschlossen lassen. Doch dann gelänge ich nicht auch in den optischen Genuss dieses Gerichts … Großartig!
Die nächste Augenweide1 ist ein Gericht mit Herzmuscheln aus Seeland in einem Jus mit Dillöl, dazu Dillblüte und Knospen von Kapuzinerkresse. Das mit Abstand umfangreichste Gericht, das ich zum Thema Muscheln je probiert habe (es sind Dutzende ausgelöste Exemplare auf dem Teller), ist überwältigend. Die Kombination zwischen jodiger, leicht salziger Meeresfrische, kräuterigem Dill und der Spannung durch die verschiedenen Texturen (flüssig / fest / am Gaumen zerplatzender Rogen) ist ein Gericht zum Abtauchen, zum Schwelgen und zum Staunen – und zum niemals vergessen.
Ein Bretonischer Hummer ist auf gleichem, scheinbar überirdischem, Niveau. Das Gericht beeindruckt nicht nur durch die phänomenale Qualität des Krustentiers – das war kaum anders zu erwarten –, sondern durch das Zusammenführen von zwei unterschiedlichen Geschmackswelten zu einem harmonischen Ganzen. Auf der einen Seite schmeichelt der mit Butter, Kakao und Vanille zubereitete Hummer dem Gaumen, doch bevor die Kreation auch nur ansatzweise „lieblich“ erscheinen könnte, steuern leicht säuerlich marinierte Bete, eine Sanddorncreme und Krustentierjus entgegen. Gigantisch.
Und gerade in einer Phase, in der ich dachte, zum Thema Foie Gras schon das meiste Relevante gesehen und probiert zu haben, gelangt dieser Streich an den Tisch. Die gebratene Entenleber wird sowohl in Schach gehalten als auch unterstützt durch Fenchel, geräucherten Aal, einen Berg an frischen Kräutern sowie Bergamotte. Schlüssig, stimmig, köstlich, denkwürdig.
Dann: Schweinshaxe und -schnauze (Duke of Berkshire pork), gewürfelt, kandiert und geschmort, mit Kaiserlingen, Trüffeln, in einem tiefdunklen Sud von gerösteten Zwiebeln. Ich glaube, hier sprechen Bilder mehr als Worte. Zutiefst befriedigend.
Und auch der zweite Fleischgang begeistert über alle Maßen. Über Holzkohle perfekt gegrilltes Wagyu (Grad 11) wird auf einem erhitzten Stein serviert. Das Fleisch ist trotz des hohen Marmorierungsgrads nicht zu fettig, es ist mit Salz und Pfeffer leicht pikant gewürzt, und etwas Fleur de Sel zum selber draufstreuen gibt es auch noch dazu. A part gibt es erfrischendes Gemüse in Form von jungem Lauch, Kräutern, kleinen weißen Bohnen sowie eine Creme von Pimentón de la Vera und etwas gegrilltes Mark. Ein herrlich unkomplizierter Hochgenuss.
Und auch den Rest des Menüs kann ich kaum abwarten.
So lasse ich mir den Käse nicht entgehen und genieße eine üppige Auswahl bestens gereifter und optimal temperierter Käse. Mehr geht auch in dieser Hinsicht nicht.
Einen Übergang zu den Desserts, z. B. in Form eines Granités o. ähnl., erspart man sich und kommt gleich zur Sache. In Anbetracht des folgenden süßen Wunderwerks ist das auch gut so! Eine Spekulatiustarte mit Frischkäse, Blüten und Kräutern verzaubert schon in dem Moment, in dem die erste Gabel sich dem Gaumen nähert. Die insgesamt leicht ätherische Aromenwelt des Gebäcks (mit Kardamom, Nelke, Zimt) vermengt sich mit Minze, anderen Kräutern, Beeren und dem kühlenden Frischkäse zu einer himmlischen (ersten) Nachspeise.
Der zweite Streich aus der Patisserie folgt auf dem Fuße. Es handelt sich um einen mit Passionsfruchtgel gefüllten, millimeterdünnen Schokoladenring, darauf lauwarmer Karamell und einige fruchtige, sahnige und schokoladige Cremes. „Heaven is right here!“ lautete einst die Markenbotschaft einer hervorragenden, inzwischen leider geschlossenen, kleinen Konditorei in Hamburg; und spätestens mit Kreationen wie dieser hier kann man am eigenen Leib erleben, wie Patissiers einen in den (siebten) Genusshimmel hieven.
Nur wie ich von hier oben wieder runterkomme, weiß ich noch nicht so genau. Mit den unverschämt guten Mignardises zum ebenfalls exzellenten Espresso klappt das auf jeden Fall auch nicht.
Nach fast genau vier Stunden ist damit eines der allerbesten jemals von mir genossenen Essen vorbei. Es waren vier Stunden voller wohlschmeckender, unkomplizierter Hochgenüsse. Es waren Gerichte, die jeden durch „Avantgarde“ und „Autorenküche“ und halbkreisförmig angerichtete Teller geplagten Esser wieder auf den Boden der wahren Essenz von Spitzenküche bringen.
„Lecker essen gehen“. Das darf man heutzutage ja gar nicht mehr aussprechen. Aber ich möchte genau das, und erlebte es hier auf höchstmöglichem Niveau, wie nur in sehr wenigen Restaurants zuvor.
Gert de Mangeleer und sein Team haben ihr Versprechen gehalten. Danke! Ich komme wieder. Versprochen.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Hertog Jan (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Gert de Mangeleer |
Ort: | Zedelgem, Belgien |
Datum dieses Besuchs: | 04.10.2014 |
Guide Michelin (BE/LUX 2014): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |