Alinea – Fischnachbar, Helium, Pollock
Chicago hat mich die letzten Tage auch ohne das Alinea begeistert, als freundliche und aufgeschlossene Metropole mit hervorragender Gastronomie und beeindruckenden Museen; als Heimatstadt von Frank Lloyd Wright (nein, das ist kein Koch) und Beginn der Route 66.
Aber heute Abend bin ich endlich im Alinea, dem Restaurant, das mich überhaupt dazu brachte, eine Reise hierhin zu erwägen. Chef Grant Achatz lässt bereits seit über einem Jahrzehnt viel von sich und seinen innovativen Ideen hören, ganz gleich, wo er diese umsetzt: im mittlerweile geschlossenen Trio, in seiner neuen Wirkungsstätte Next oder eben im Alinea. Dabei erschien mir Achatz selbst immer recht geerdet zu sein; den Hype um ihn machten andere. Nicht einmal ein Krebsleiden, das ihn beinahe den Geschmackssinn gekostet hätte, warf ihn aus der Bahn. Im Gegenteil, er besiegte es und machte das Alinea zu einem der besten Restaurants der USA.
Nicht nur dieser Weg, sondern auch Achatz‘ Ideen faszinierten mich von Anfang an mehr als viele andere aus der gastronomischen Avantgarde. Er schien mit seinen Gerichten immer Geschichten zu erzählen, häufig mit persönlichem Bezug.
Welche dieser Eindrücke sich heute Abend bewahrheiten werden, bin ich mehr als bereit, herauszufinden – in bester Laune und mit gutem Appetit. Mein Mittagessen im Blackbird war leicht und bekömmlich und liegt jetzt ausreichende sieben Stunden zurück.
Mein Eindruck der Bescheidenheit festigt sich, als mich das Taxi vor dem Restaurant absetzt. Das schlichte, graue Haus war mir bereits von Fotos bekannt, ansonsten hätte ich wohl etwas länger nach dem Eingang gesucht. Kein Schild deutet auf die Existenz dieser Gastronomieinstitution hin.
Ich trete ein und stehe auf einmal allein in einem dunklen Flur, von dessen Decke dutzende pink beleuchtete Vasen in Tropfenform hängen. „Hier beginnt eine andere Welt“, scheint es zu tönen, und ich bin neugierig – und hungrig – genug, um einen Blick in sie zu werfen.
In den eigentlichen Räumlichkeiten ist dann alles wieder schlicht. Erdtöne, abstrakte Kunst und indirekte Beleuchtung bestimmen das elegante, behagliche Ambiente. Überall schwirren Kellner in dunklen Anzügen umher, tischen auf, räumen ab, schenken ein. Doch flüsterleise ist es keineswegs; heitere Gespräche aller Gäste erfüllen den Raum. Es gibt mehrere Speisesäle, verteilt über zwei Stockwerke.
Die erste Überraschung erlebe ich zunächst, als mir die Kellnerin „Gerolsteiner“-Mineralwasser einschenkt. Ob das Wasser auf die Nationalität der Gäste abgestimmt wird? Aber nein, erfahre ich, es hätte ihr in Blindproben einfach am besten geschmeckt. Ein charmanter Zufall, der sich auch mit meiner Präferenz deckt.
Da meine Begleitung leider kurzerhand absagen musste, bin ich heute Abend allein hier. Doch anstatt nun auf dem zweiten – bereits erworbenen – Ticket sitzenzubleiben (jeweils ca. € 230), bekomme ich immerhin die Weinbegleitung „aufs Haus“, sodass mich keine weitere Rechnung mehr erwartet. Eine kulante Geste, die ich gerne annehme.
Auf meinem Tisch befindet sich nichts außer dem Wasserglas, einem Glas Champagner (José Dhondt, Blanc de Blanc, Brut NV), meiner Serviette und einem Schälchen. Nichts soll ablenken von dem was folgt. Was mich die kommenden Stunden hier erwartet, ist allerdings eine Überraschung, denn eine Liste der Speisen gibt es erst ganz zum Schluss.
Zuerst erreicht mich eine Löffeldegustation („Osetra“) mit, u. a., Ossietra-Kaviar und einer Kapsel, die im Mund Nussbutter preisgibt. Ein äußerst köstliches Vergnügen.
Es folgt „Rabbit“, doch mit Hasen hat das wenig zu tun. Radieschen, Kirschblüte, „Rauch“ und Wasabi ergeben ein knackig-frisches Ensemble. Nichts für die Ewigkeit, aber sehr genießbar. (Weinbegleitung: Weingut Mönchhof, „Ürzig Würzgarten“ Riesling Kabinett, 2011)
Dann taucht die kulinarische Reise ab unters Wasser. Ein prächtiger Schnapper (mit unzufriedenem Gesichtsausdruck) wird auf dem Tisch platziert und verweilt dort kurioserweise während der nächsten paar Gänge. Das ist an anderen Tischen nicht so. Vielleicht hat man Mitleid, weil ich allein am Tisch sitze.
Der nächste Gang ist „Scallop“, mit „Zitrusaromen und vierzehn Texturen“ – darunter sublimierendes Trockeneis. Irgendwie schäme ich mich immer ein bisschen, wenn mir ein besonders effekthascherisches Gericht serviert wird. Doch in diesem Fall ist Scham völlig fehl am Platz. Das Trockeneis sorgt für eine effiziente Kühlung der Zutaten, die sich als essenzieller Bestandteil des Gerichts entpuppt. Das Gericht selbst ist eine Entdeckungsreise, auf der man lauter Schätze findet. Schon das Aufklappen der Muschel gleicht dem Öffnen einer Schatztruhe. Ich weiß gar nicht so genau, was es alles ist, aber die beispiellose Frische der Jakobsmuschel, die intensiven Zitrusaromen und die niedrige Temperatur der Zutaten ziehen alle an einem Strang, als hingen Frische, Säure und Kälte irgendwie miteinander zusammen. Meisterhaft!
Dieses Essensglück hätte ich gern mit meinem Gegenüber geteilt, doch mein Fischnachbar ist nicht besonders gesprächig. Vermutlich schwant ihm Übles …
Es geht weiter mit „Dungeness Crab“(Taschenkrebs) mit Kürbisblüte, Kardamom und Safran. Das sieht wie ein Dessert aus, und ist leider wenig beeindruckend. Etwas fad und zu verspielt. Ich leere das Glas Montenidoli Vernaccia di San Gimignano „Carato“ 2008 und warte gespannt und hoffnungsvoll auf den nächsten Gang.
Zu meiner großen Freude scheint es nun Japanisch zuzugehen, denn es werden Stäbchen aufgetischt, und der Sommelier kredenzt Sake (Takatenjin „Soul of the Sensei“ Junmai Daiginjo) und Bier (Hitachino Nest White Ale, Kiuchi Brewery), beides exzellent.
In diesem Moment erfüllt ein betörender Lagerfeuerduft den Raum. „Binchotan“ bezeichnet eine Holzkohleart in Japan und hier das nächste Gericht mit dem Untertitel „Tokyo inspiration“. Tatsächlich brennt auf einem Stein ein kleines Stück Kohle, daneben befinden sich vier Petitessen, auf die ich kaum gespannter sein könnte. Die Protagonisten sind: Schweinebauch, Thunfisch, Wagyu-Rind, knuspriger Garnelenkopf. Jeder Happen ist grandios. Die Qualitäten und Garungen sind perfekt, alles schmilzt regelrecht am Gaumen, und sogar der Kopf des Krustentiers mitsamt Fühlern ist ein unerwartetes, knuspriges Vergnügen. Das kleine Feuer strahlt dabei die ganze Zeit noch etwas Wärme an die Häppchen ab. Hochdosierter Wohlgeschmack und eine Ode an gute Produkte.
Mittlerweile sitze ich wieder allein am Tisch. Mein ungesprächiger Freund, der Schnapper („Onaga“), wurde seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt. In dicken Tranchen liegt er jetzt auf einem Teller vor mir, betupft mit Limone, dazu gibt es (selbstverständlich echten) Wasabi und ein absolut süchtig machendes Schälchen mit ziemlich pikant eingelegten Gurkenstückchen (togarashi pickles).
Grandios! Die Textur des Fischfleischs, dieser pure Geschmack nach Weite … und als Kontrast dazu das Feuerwerk des scharfen, knackigen Gemüses. Das ist eines der besten Gerichte, die ich je gegessen habe. In Europa fielen mir nur das Le Petit Nice und Victor’s Gourmetrestaurant Schloss Berg ein, wo man derart guten rohen Fisch genießen kann. – Ich weiß, ich weiß, ich muss nach Japan. Aber zumindest bin ich heute Abend schon kulinarisch in der Nähe.
Es ist jetzt neun Uhr, und viele der Tische werden inzwischen neu eingedeckt – für das zweite seating. Es herrscht eine für Europäer etwas befremdliche Aufbruchsstimmung, die mir eine kleine Verschnaufpause erlaubt. Ich koste schon mal den Wein zum nächsten Gang, einen würzigen Côte du Rhône „Sierra du Sud“, Domaine Gramenon 2010.
Es erreicht mich dann ein tiefer Teller, der zur Erkundung einlädt. Unter einem weißen Schaum entdecke ich u. a. einige Gemüse und darunter dann geschmortes Fleisch („Veal cheeks“, Kalbsbäcken), das nicht süffiger sein könnte. Umhüllt von einer dichten, cremigen Sauce (u. a. mit Blaubeeren und Lapsang Souchong) schmeichelt es dem Gaumen so als wäre genau dies der eine, perfekte Geschmacksakkord. Unglaublich lecker, unglaublich unvergesslich.
Die vierte Darbietung absoluten Wohlgeschmacks präsentiert sich in Form eines kleinen Snacks, der mir irgendeinen ekstatischen Laut entlockt (Hot potato / cold potato, black truffle, butter).
Die Präsentation des nächsten Gangs ist spektakulär. Eine bereits etwas zuvor präsentierte Entenbrust wird jetzt auf zwei Tellern an den Tisch gebracht – tranchiert und als verschiedene Teile/Innereien –, in einer betörend duftenden Sauce; dazu eine Platte mich sechzig (!) verschiedenen Zutaten, die damit kombiniert werden sollen. Auf der Speisekarte heißt das Gericht später: „Duck / ........?????............!!!!!!!!!!!!!“ (sic!).
Die schiere Menge und die Vielfalt sind beeindruckend und überfordernd zugleich. Als ich mich dem Fleisch zuwende, stelle ich fest, dass mir die Stücke viel zu roh sind. Und nicht ausreichend erhitztes Geflügel ist einfach nicht meine Sache; somit ist für mich von vornherein die Freude an dem Gang verflogen. Ich probiere dennoch einiges – überwiegend die Petitessen auf dem Tablett – aber dennoch ist das irgendwie ein „Overkill“, trotz der zweifellos hervorragenden Produkte und ebensolchen Ausführung. Dennoch lasse ich bestimmt fünf Sechstel des Gerichts liegen; schade um die riesige Portion, die mühelos zwei hungrige Esser gesättigt hätte, auch ohne die vorherigen Gänge. Der Wein dazu ist legendär und eigentlich in jedem Jahrgang famos: ein 2004 Château Musar aus dem Bekaa Valley in Libanon.
Dass man mit viel weniger noch viel mehr herausholen kann demonstriert dann hinreißend der Black Truffle Raviolo mit Romanasalat, der im Mund „explodiert“ und flüssigen Parmesan zum Vorschein bringt. Einfach perfekt.
Nach zwei Stunden markieren nun fünf winzige, jeweils auf einem Metallstab aufgespießten, Häppchen den Übergang zum süßen Finale. Die auf Ingwer und Galgant basierten Teilchen haben es aromatisch in sich! Pikant, süß und sehr gelungen. Passend dazu ist der „Boston Bual Special Reserve“ Madeira von The Rare Wine Co.
Die zwölfte Folge im Menü ist ein mit Helium gefüllter Ballon (Balloon / helium, green apple). Man soll hineinbeißen, das Edelgas einatmen und irgendwie die klebrige Apfelmasse essen. Mehr als einen hochfrequenten Lacher entlockt mir diese Spielerei allerdings nicht.
Doch es ist noch lange nicht vorbei! Strawberry – Erdbeeren in unterschiedlichsten Zuständen mit Sauerampfer, Sassafras und Pinienkernen – könnte ich ewig weiteressen! Süß, knusprig-weich wie Kellog’s Smacks und intensiv erdbeerig. Ja! Ebenfalls sehen lassen kann sich der dazu eingeschenkte Disznoko Tokaji-Aszu 5 Puttonyos 2005.
Nach einem Himbeerdrink mit Rose (Raspberry infused with rose), den man durch einen dicken Glasstrohhalm konsumiert, beginnt dann ein Spektakel, das ich bereits zuvor an anderen Tischen beobachten konnte und die Frage, ob manches Essen Kunst ist, eindeutig beantwortet – zumindest hier.
Für das schlicht „Milk chocolate“ genannte Spektakel wird zunächst ein spezielles Kunststofftuch auf meinem Tisch ausgerollt. Dass es dabei auch hygienisch zugeht (niemand berührt die Fläche), begrüße ich. Dann baut ein Patissier eine Batterie von Zutaten und Schälchen auf und beginnt damit, das Dessert auf den Tisch „zu malen“. Jason Pollock hätte sicherlich gestaunt. Nach ein paar Minuten sieht das Ergebnis dann so aus wie ein modernes Kunstwerk. Dessen Inhalt: Schwungvoll aufgebrachte Saucenkleckse (u. a. mit Veilchen) und in der Mitte ein flaches, rundes Törtchen (pâte sucrée) mit Haselnuss und Eischnee.
Ich fange dann mal an. Probiere hier, probiere da … Das ist alles einwandfreies und köstliches Patisseriehandwerk, aber mir einfach von allem etwas zu viel. Zu viel Show und zu viel von der Menge. (Vermutlich ist das ohnehin eine Portion für zwei.) Das Essen vom Tischtuch zu löffeln ist auch irgendwie befremdlich. Dennoch ein sicherlich denkwürdiges Finale, allerdings weniger aus kulinarischer Sicht. (Wein: Maculan „Torcolato“ Breganze, Italien, 2009)
Das war’s!
Wie fand ich es nun, das berühmte Alinea? Ganz ausgezeichnet! Grant Achatz und seinem Team gelingt ein schwieriger Spagat zwischen kulinarischer Avantgarde und dem Fokus auf Wohlgeschmack. Denn trotz diverser Showeinlagen und teilweise unnötig spektakulärer Präsentationen sind alle Gerichte äußerst schmackhaft und produktfokussiert, und manchmal sogar regelrecht minimalistisch. Und ein bisschen Helium und Pollock zwischendurch machen den fetten Kohl auch nicht magerer. Großes Kino!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Alinea (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Grant Achatz |
Ort: | Chicago, USA |
Datum dieses Besuchs: | 25.07.2013 |
Guide Michelin (CHI 2013): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |