Mirazur – Gartenarbeit
Nachdem ich mich die Tage zuvor von der Großartigkeit der schnörkellosen Mittelmeerküche überzeugen konnte, ist es heute Abend an der Zeit für etwas Abwechslung. Die Mischung macht’s, bekanntermaßen.
Das Restaurant Mirazur ist gerade recht hoch im Kurs bei Essbegeisterten rund um den Globus. Eine vordere Platzierung in der trendangebenden „Pellegrino-Liste“ reflektiert den Rummel um dieses Haus, das sich haargenau an der Grenze zwischen Frankreich und Italien befindet. Lediglich ein paar Meter trennen französische Straßenschilder von denen des Nachbarlands, ein verlassenes Grenzhäuschen befindet sich nebenan.
Chef am Herd ist der Argentinier Mauro Colagreco, der Zwischenstationen in diversen Sternehäusern absolvierte: La Côte d’Or, Arpège, Plaza Athénée, Le Grand Véfour und andere. Heute kocht er hier in Menton und bewirtschaftet einen terrassenförmig angelegten Garten direkt hinterm Haus.
Früchte, Gemüse und Kräuter aller Art räkeln sich dort in der Sonne, um später auf den Tellern Platz zu finden; all das kombiniert mit den Schätzen des Mittelmeers. Ich bin gespannt!
Wie fast alle Tische hier, ist auch unserer direkt am Fenster, mit Blick über die Küste und den Hafen von Menton. Das Interieur ist sachlich schlicht, einige Geschmacksverirrungen, wie die seltsam gemusterten Jalousien und ein schwer zu beschreibendes, unbehagliches Raumgefühl lassen bei mir allerdings wenig Gemütlichkeit aufkommen.
Es dauert nicht lange, bis ich mich für das „Carte Blanche“-Menü entscheide, das mit € 135 in dieser Region recht moderat budgetiert ist. Bei Ducasse bekommt man dafür nicht mal zwei Gänge.
Wenig später sieht es auf dem Tisch so aus wie im Wald; moosähnliche Gewächse, Baumrinde und sonstige Gebilde lassen zunächst die Frage aufkommen, was man davon essen kann. Der Kontrast zur produktnahen Küche der letzten Tage könnte kaum größer sein. Doch die Snacks, deren Zutaten ich nicht notiert habe – rote Bete und Anchovis spielen unter anderem eine Rolle – sind jeweils sehr aromaintensiv und machen Spaß.
Ofenfrisches Weißbrot, zu dem provenzalisches, mit Zitrone parfümiertes Olivenöl gereicht wird, überbrückt schmeichelnd die Wartezeit zum ersten Gang des Menüs, Carpaccio de Gambas Blanches.
Das Gericht ist ein leichter, frischer Auftakt, die Himbeere und frischen Mandeln setzen ungewohnte, interessante Akzente. Rohe Garnelen haben häufig – auch in gehobenen Restaurants – eine etwas schleimige Textur; diese hier nicht, was ich sehr begrüße.
Es geht weiter mit einem hübsch angerichteten Bohnensalat, Salade d’Haricots, mit Kirschen und Pistazienvinaigrette. Knackig-quietischg und gut gewürzt bereitet auch dieser unverkrampfte Teller große Freude.
Ein in seiner Schale serviertes Ei (Œuf dans sa coque) mit Sauce Béarnaise und Spinat ist herrlich süffig und auch genau richtig gesalzen. Nicht, dass ich so etwas noch nie gegessen hätte, aber auch das kann man mäßig oder sehr gut machen. Dieser Gang zählt zur letzten Kategorie.
Unvergesslich gut ist dann der nächste Gang, Calamar grillé. Kleine, kurz gegrillte und wunderbar schmackhafte Tintenfische teilen sich den Teller mit ebenfalls gegrillten Artischockenherzen und einer fantastisch abgeschmeckten Bagna-Cauda-Sauce. Diese regionale Spezialität besticht hier durch einen kecken Einsatz von Knoblauch, der sonst ja weitestgehend aus der gehobenen Gastronomie verbannt ist – zu Unrecht, wenn er so verwendet wird wie in diesem süffigen Gericht. Das schmeckt nach Grillabend und Salz auf der Haut. Wunderbar!
Eine im Anschluss servierte gebratene Foie Gras habe ich im Eifer des Gefechts vergessen, zu fotografieren. Diese wird in einem Schälchen mit Entenbouillon serviert, dazu gibt es weißen Pfirsich und Zwiebelconfit sowie Eisenkraut und Kardamom. Eine sehr feine und ausgewogene Kombination mit überraschenden Geschmackskombinationen, die trotz aller Kreativität nie zu experimentell wirken.
Bisher war jeder Gang sehr gut bis hervorrangend, doch ungerechterweise ist der Funke noch nicht so ganz zu mir übergesprungen. Dafür waren die Spuren, die die produktfokussierte Küche der vergangenen Tage bei mir hinterlassen hat, einfach zu gewaltig.
Bei diesem Gedanken muss ich über das nächste Gerichte schon fast schmunzeln, denn es berührt – als bisher einziges Gericht an diesem Abend – genau die Punkte, die ich an ungeschickt umgesetzter kreativer Küche kritisiere. « La forêt », der Wald also, wird vom Kellner als kleines Ratespiel inszeniert. Doch was ist das für Küche, bei der man nicht erkennen kann, was man da isst? Dennoch lassen sich die hauptsächlichen Ingredienzen schnell ausmachen: verschiedene Pilze (Champignons, Kräutersaitlinge), Quinoa und eine Parmesancreme.
Erwartungsgemäß ist das nicht mein Fall; zu viele Cremes und Schwämme demonstrieren nichts außer das Beherrschen der entsprechenden Techniken. Stärker denn je empfinde ich so etwas als vollkommen überflüssig, obwohl das soschlecht tatsächlich nicht schmeckt.
Doch Colagreco findet schnell wieder auf den vorherigen Pfad zurück, wenn auch zunächst leicht holprig. So ist die Rotbarbe, Rouget, ein traumhaft frisches Exemplar – serviert mit kleinen Zucchini, Erbsen, Zwiebelbouillon, „Rauch von Seeteufel und Salbei“, Kutteln vom Kabeljau und Schnittlauchblüten –, doch in Summe ist das aus irgendeinem Grund alles etwas zu Süß geraten. Dennoch sehr gut.
Der nächste Gang ist zwar etwas hilflos angerichtet, aber zweifellos eine exzellente Produktpräsentation. Das Kalbsbries (Ris de Veau) – ein in jeder Hinsicht sensibles Produkt, bei dem mir eine zu große Portion oder eine unzureichende Garung leicht den Appetit verderben können – ist hier genau richtig auf den Teller gebracht: knusprig, überschaubar, gut gewürzt, und außerordentlich fein in Kombination mit hyperfrischen Erbsen und einem Kräuterpüree.
Es folgt ein Milchferkel (Cochon de lait), perfekt gesalzen, betörend zart und mit einer wunderbaren Kruste – so ziemlich das beste Fleisch dieser Art, das ich je gekostet habe –, dazu ein paar Zwiebeln und Pfifferlinge, Polentacreme und ein intensiv aromatischer Jus. Hervorragend!
Die Desserts sagen mir insgesamt weniger zu, doch bin ich bekanntermaßen auch nicht besonders empfänglich für Experimente beim süßen Abschluss eines Menüs – besonders dann nicht, wenn man das mit Gemüse versucht (Petit pois, capucine). So bringen Erbsen zweifellos eine natürlich Süße mit sich, aber keine, die ich mir in einem Dessert wünsche. Das dazu servierte Eis aus Blüten der Kapuzinerkresse schmeckt naturgemäß nach Senf. Aber, Hand aufs Herz, Erbsen mit Senf mag eine interessante Kombination sein, aber eher zum Schweinebraten.
Erfrischend und säuerlich-fruchtig ist die Soupe de pommes vertes, ein Arrangement um Apfel, Koriander und Joghurt; die Erdbeeren mit frischen Mandeln und Ysop(?)-Sorbet (Premières fraises de Carros, amandes, sorbet à l‘agastache) schließen das Menü schließlich unwürdig, weil verkrampft andersartig, ab.
Zugegeben, das Mirazur hatte es bei mir am heutigen Abend nicht leicht. Dennoch haben mir viele Teller sehr gefallen, insbesondere, wenn der Fokus auf dem Produkt und dem Wohlgeschmack lag, also offenbar immer dann, wenn sich Colagreco nicht zu sehr aus dem Fenster lehnt. Erfreulicherweise war das ja auch überwiegend der Fall. Wenn jetzt nur noch der Gärtner aufhörte, Patissier zu spielen, wäre das Mirazur ein Pflichtbesuch in dieser Ecke.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Mirazur (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Mauro Colagreco |
Ort: | Menton, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 08.06.2013 |
Guide Michelin (F 2013): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens |