Le Petit Nice – Eichspeisen
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die beim Anblick von Meer bedingungslos in Ekstase verfallen und dabei jegliches Maß an Objektivität verlieren. Natürlich ist der Blick aufs Mittelmeer hier vom Hotel aus einmalig, doch der Charme bröckelt.
Das Hotel Le Petit Nice in Marseille ist ziemlich marode, trotz Fünf-Sterne-Klassifizierung und „Relais & Châteaux“-Mitgliedschaft. An der von Sonne und Salz gezeichneten Fassade blättert der Putz ab, die großen, am Gebäude zur felsigen Meerseite hin prangenden Lettern „PASSEDAT“ sind ausgeblichen, und mein Zimmer (einer höheren Kategorie) ist zwar geräumig und komfortabel, hat aber dennoch Jugendherbergscharakter. Die Flure sind eng, hässlich und muffig.
Doch natürlich bin ich des Essens wegen hier. Gérald Passédat ist einer der besten Köche des Landes und gilt als jemand, der das Mittelmeer auf den Teller bringt wie wenige sonst.
Mit großer Spannung sitze ich also später im Restaurant, starre durch die große Fensterfront hinaus aufs azurblaue Meer – und in die Speisekarte. Eine Entscheidung fällt mir schwer, denn eigentlich sind diese Stadt und dieses Restaurant berühmt für die Bouillabaisse (es gibt hier ein eigenes Menü, das dieser gewidmet ist), doch möchte ich unbedingt auch andere Fischgerichte kosten. Nach ein paar Rückfragen und Mauscheleien kann ich schließlich in meine A-la-carte-Wahl einen kleinen Bouillabaisse-Gang einbauen. Über diese Flexibilität bin ich sehr erfreut und versinke bei einem Glas Champagner (Hausmarke, € 23) tiefer in meinen Sessel.
Das Menü beginnt mit handwerklich und qualitativ exzellenten Amuse-Bouches mit unterschiedlichen Fischen und Gemüsen. Sogar die frittierten Teile sind mit ihrer hauchdünnen, krossen Schicht erstaunlich gut. Doch ich habe die Messlatte heute ganz oben angesetzt und will den Michelin penibel beim Wort nehmen: „die Reise wert“. Nach diesem Maßstab ist alles Exzellente gut und alles sehr Gute gewöhnlich. Ich möchte heute umgehauen werden.
Dass dieses Restaurant in der Lage dazu ist, zu einem meiner (wenigen!) absolut prägenden kulinarischen Erlebnisse zu werden, dämmert mir allmählich mit dem ersten von mir gewählten Gang, La Pelamide (€ 75).
Auf diesem Teller finde ich ein Dutzend Scheibchen rohen Fischs zweier Sorten, nämlich Stachelmakrele (liche) und Pelamide, dazu ein Jus mit Bergamotte sowie etwas Gemüsesalat mit Karotten, glaube ich. Als ich die Scheibchen probiere, muss ich mein Qualitätsverständnis für (rohen) Fisch umkrempeln.
Textur, Temperatur, Biss, Schmelz, Maserung, ja sogar die Größe eines jeden Happens, all das ist perfekt, so perfekt, dass die Beurteilung des „Geschmacks“ fast völlig nebensächlich erscheint. Die Stückchen schmecken eigentlich nach nicht viel, außer nach etwas Salzwasser und Jod und der herrlichen Bergamotte, die ich ab und zu mit einem der Happen aufnehme. Der Geschmack ist subtil und flüchtig wie eine Schaumkrone auf dem glitzernden Meer vor mir, aber dennoch so tief wie dessen Blau. Perplex von all diesen erhofften, aber unerwarteten, Emotionen nehme ich die anderen dazu servierten Köstlichkeiten nur peripher wahr und verharre eine ganze Weile in diesem Zustand des Essensglücks, der mich zu Hause nur noch unglücklicher stimmen wird, ob der dort gebotenen Fisch-„Qualitäten“.
Nach einem völlig überflüssigen Sorbet steht dann wenig später die berühmteste aller Fischsuppen vor mir, die Bouillabaisse. In einem tiefen Teller liegen vier kleine, unterschiedlich gegarte Filets verschiedener Fische, an die ein rötlichbraunes Elixier angegossen wird. Ätherische Aromen und Safranduft fluten meine Rezeptoren und schaffen eine unsichtbare Verbindung zwischen dem Teller und mir. Ich koste ein, zwei Löffel und bin erneut in heller Aufregung. Die Suppe ist von einer intensiven geschmacklichen Tiefe und spricht alle Grundgeschmäcker gleichzeitig an, jedoch in unterschiedlicher Intensität. Ab und zu setzt das Grillaroma eines der Fischfilets einen rauchigen Akzent. Auch das ist pures Meer! Dieser meisterhaft umgesetzte Klassiker der provenzalischen Küche wird vermutlich für immer meine Referenz – meine Eich-Bouillabaisse – bleiben.
Die drei Sterne hake ich schon jetzt getrost ab, denn solche Eichgerichte sind rar und lohnen jede Reise.
Dass es sogar ein weiteres Gericht dieser Art geben würde, oder zumindest eines, das es mit meiner bisherigen Referenz in Sachen Wolfsbarsch aufnehmen kann, hätte ich allerdings kaum für möglich gehalten.
Doch der Loup de Lucie Passédat (€ 95), eine Hommage an Passédats Großmutter, lässt meinen bisherigen Eich-Wolfsbarsch von Bernard Pacaud (L’Ambroisie) auf seinem Thron erzittern. Dieser stürzt zwar nicht, muss sich jedoch ab heute den Platz dort oben teilen, ob es ihm schmeckt oder nicht. (Ob ich mir Gedanken machen muss, dass ich darüber nachdenke, wie es meinen Speisen schmeckt, steht auf einem anderen Blatt.)
Auf diesem Niveau ist es völlig selbstverständlich, dass der Fisch „geangelt“ wurde (was sonst?), und zwar noch am selben Tag, und dann saftig, leuchtend weiß, butterzart und schonend gegart, nicht gegrillt, auf den Teller kommt. Das bei diesem Gericht quaderförmig ausgeschnittene Filet ist abwechselnd mit hauchdünnen „Nudeln“ von Zucchini und Gurke bedeckt und ist auf einem wunderbar säuerlichen, intensiv aromatischen Allerlei von Tomate, Zitrone, Schalotten, Basilikum, Koriander, Trüffel und Olivenöl gebettet.
Alles von erstklassiger Güte natürlich, denn nur deshalb schmeckt es so gut. So gut, dass ich dies mühelos zu den besten Gerichten zähle, die ich je gegessen habe. Niemand muss sich „auskennen“ oder in der Spitzengastronomie bewandert sein, um dies zu verstehen. Manchmal ist es ganz einfach – und dann umso beeindruckender.
Nach diesem besten Gericht des Abends geht es irgendwann über zum Dessert. Die Brücke hierzu schlägt eine Kreation mit Zitrone, Hibiskus und Rose, die jedoch mit vorheriger Grandesse nicht mithalten kann.
Hervorragend ist dann wieder das Dessert, das sich um Erdbeere und einen speziellen Ziegenkäse dreht (Fraîcheur et la Brousse de Rove, € 35). Neben einem Schälchen mit makellosen Erdbeeren und Blaubeeren sind da noch fünf weitere, identische „Häppchen“, von denen tatsächlich keines zu viel ist. Eines ist so lecker wie das andere.
Ein prägender Abend geht zu Ende. Wer auf der Suche nach komplexen Geschmackskompositionen mit dutzenden Zutaten und unterschiedlichsten Zubereitungsarten ist, nach dem neuesten Hering-Geschirr, nach dem Zalto-Glas in neuer Geometrie, nach scheinbar unendlichen Grüßen aus der Küche, nach einer exotischen Weinbegleitung und nach einem Unterhaltungsprogramm durch den Service – also durchaus nach alldem, das manche irrtümlicherweise von einem Drei-Sterne-Restaurant erwarten – dem sei hiermit eine Reisewarnung erteilt.
Wer dagegen eintauchen möchte ins Mittelmeer, in diese faszinierendere und schnörkellose Welt von unverfälschtem Wohlgeschmack und authentischer Produktküche, der reise schnell hier hin. Schnell!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Petit Nice (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Gérald Passédat |
Ort: | Marseille, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 04.06.2013 |
Guide Michelin (F 2013): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |