Epicure – kulinarischer Hedonismus
„Dies sind die besten Macarons in Paris!“, sagt der Kellner, und ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht den geringsten Zweifel an dieser kühnen Behauptung. Er hätte auch schon vor einigen Stunden sagen können: „Freuen Sie sich auf eines der besten Essen Ihres Lebens!“. Das wäre zwar hochmütig, aber – wie ich später wissen werde – zutreffend gewesen. Doch dass ein solches Selbstbewusstsein erst zum Schluss des Essens artikuliert wird, ist Teil des unerwartet erfrischenden Understatements, das man in diesem luxuriösen Gastronomietempel antrifft.
Understatement? Nun ja, Bescheidenheit ist hier vielleicht keine Tugend (allein die Dekoration eines Tischs dürfte ein kleines Vermögen wert sein), doch um all das wird kein großes Theater gemacht. Arroganz und Verklemmtheit kann man woanders suchen – hier, im restaurant gastronomique des Hotels Le Bristol, wird man dessen nicht fündig. Stattdessen: Sympathie, Herzlichkeit und Humor, vom Betreten des Restaurants bis zum Hinausgehen in die Nacht.
Bei einem Glas Rosé-Champagner stöbere ich in der verheißungsvollen Speisekarte. Besonders in den Pariser Drei-Sterne-Restaurants ist das für mich immer ein besonderes Vergnügen. Ich bin dabei so gespannt wie als Kind vor der Bescherung, schließlich ist Paris für mich einer der Orte für grandioseste Produktküche. Da können die Skandinavier noch so viele Ameisen auftischen.
Obwohl die Verlockung eines Menüs ob der gebotenen Vielfalt groß ist, entscheide ich mich für eine Auswahl à la carte und greife dabei gleich eine Tagesempfehlung des Kellners auf: morilles des pins. Der hierzulande „fette Henne“ oder „krause Glucke“ genannte Speisepilz sei in dieser Güte besonders selten und eine unbedingte Empfehlung. So soll es sein, zusätzlich zu einer weiteren Vorspeise, einem Fleischgang und einem Dessert. (Obwohl ich in Fleischgerichten seltener kulinarische Erfüllung finde, will ich es jetzt wissen.) Jede Festlegung kommt mir vor wie ein Schachzug – mit mir selbst als Gegner.
Die ersten Amuse-Bouches werden serviert. Sie sind allesamt hervorragend. Es handelt sich dabei um eine Blätterteigkreation mit Limette und Wassermelone; Gambas mit Tandoori-Gewürz; und Gurkengelee mit Quark und Minze. Dreimal konzentrierter Wohlgeschmack auf kleinstem Raum. Die dann folgende Komposition mit Fenchel, Dill, Karotte und Passionsfrucht ist ein grandioses aromatisches Erlebnis!
Eine derart durchgängige Präzision und „Genießbarkeit“ eines Essensauftakts erlebt man nur ganz selten. Schon das ist aufwühlend. Ich atme tief durch. Hier kann gar nichts schief gehen. (Vorschusslorbeeren gibt es dennoch nicht.)
Als erste von zwei Vorspeisen fiel meine Wahl auf „alte Tomatensorten“ (tomates anciennes, € 55). Während Esser mit ungeschultem Gaumen vegetarischen Gerichten vermutlich seltener den Vorzug geben, könnte ich kaum gespannter sein. Wenn eine scheinbar gewöhnliche Zutat das Leitmotiv eines ganzen Gerichts ist – wie hier die Tomate –, dann ist ein herausragendes Erlebnis so gut wie sicher, zumindest in einem solchen Restaurant in Paris.
So dann wahrhaftig auch hier. Auf dem Teller findet man sonnenverwöhnte, vollaromatische Tomatenscheiben in einer emulsionsartigen Vinaigrette, die zwischen Süße und Säure perfekt ausbalanciert ist. Darauf thront eine geeiste (aber nicht zu kalte) Kugel aus weißer Tomatenessenz, in der sich eine frische, mediterran anmutende Melange aus weiteren Tomatenstückchen und Burrata-Käse befindet. Bestes Olivenöl und Oregano, von dem ein winziges Blatt so schmeckt wie ein ganzer Zweig aus deutschen Supermärkten, runden das perfekte Gericht ab, das italienische Einfachheit mit französischer Perfektion verbindet. Küchenhandwerk, Produktqualität und Genuss treffen sich hier auf höchstem Niveau. Besser kann man nicht essen.
In der Karaffe und im Glas entfaltet sich in der Zwischenzeit ein hervorragender Chassagne-Montrachet von der Domaine Moreau (€ 160), eine Empfehlung des sympathischen und kompetenten Sommeliers.
Vom den bisher wenigen, aber phänomenalen Speisen abgesehen, ist in diesem Restaurant alles angenehm: großzügige Tischabstände, große Tische, die Beleuchtung, das schwere Kristall-Wasserglas, die hohen Fenster zum prachtvollen Innenhof… und vor allen Dingen auch der fantastische Service, der es schafft, dass man sich wie bei guten Freunden zu Hause fühlt. Im Epicure hat man ganz offensichtlich alles verstanden, das mit „gut essen gehen“ zu tun hat und setzt dies mit einer Effizienz und Leichtigkeit um, wie ich sie so, glaube ich, noch nie erlebt habe.
Gespannt und zuversichtlich blicke ich dem nächsten Gang entgegen.
Morilles des pins (€ 55), ein Speisepilz in Badeschwamm-Optik, beschert mir dann ein weiteres unvergessliches Esserlebnis – nicht zuletzt wegen dieses seltenen (mir zuvor unbekannten) Produkts. Der Pilz mit leicht morchelähnlichem Aroma ist herzhaft, waldig und butterzart. Ein Esslöffel ist das einzig benötigte Utensil, um sich den Schmaus einzuverleiben. Die mit Vin Jaune zubereitete Sauce dazu ist mild und süffig; sie bietet gerade die richtige Unterstützung, um ein derart faszinierendes Naturprodukt meisterhaft in Szene zu setzen. Kaum von dieser Welt und für immer in meiner Erinnerung.
Der weiße Burgunder ist inzwischen zur Neige gegangen. Nach kurzem Plausch mit dem Sommelier, dem mein volles Vertrauen gilt, steht ein kraftvoller 2004er Gigondas auf dem Tisch (€ 90), ich glaube von Saint-Cosme, aber ich weiß es nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit schweift in Richtung des gerade präsentierten Stücks Kotelett vom Milchkalb. Goldbraun und knusprig angebraten wird einem schon mal der Mund wässrig gemacht.
Wenig später steht das Gericht vor mir. Zu drei prächtigen Tranchen Fleisch (côte de veau rôtie en cocotte, goût jambon de Parme, € 195 für zwei), gebettet auf Rauke (u. a.), gesellen sich Kapern und einige Gemüse. Noch bevor ich fantasieren kann, das sähe zwar gut, aber trocken aus, erblicke ich, von rechts kommend, schon den Glanz einer funkelnden Saucière. Ein ebenso glänzendes Elixier mit betörendem Duft wird daraus auf dem Teller angegossen. Pfifferlinge gibt es auch noch dazu, in einem separaten Gefäß. Eine weitere Person hobelt gereiften Parmesan über den Teller und lächelt dabei herzlich, aber diskret. Hier will jeder Gutes vollbringen. Alles duftet, alles glänzt, meine Augen auch.
Nach der zweiten Gabel – spätestens – ist dann für mich die Erkenntnis gesichert, dass es sich hier um das beste, d. h. köstlichste, Fleischgericht handelt, das ist je gegessen habe. Das bedeutet nicht etwa, dass so perfekt zubereitetes Rind wie bei Peter Luger – oder viele andere hervorragende Qualitäten und Schnitte – „schlechter“ wären, doch bei diesem Gericht ist es noch etwas Anderes: Es ist das perfekt zubereitete Kalbfleisch allererster Güte im Zusammenspiel mit den anderen Zutaten, die nicht als Beilagen deklassiert sind, sondern deren raffiniertes Säurespiel im Mittelpunkt des gesamten Geschmackserlebnisses steht. Kapern und Zitrone, sowie der herzhafte Parmesan und die meisterhafte Sauce, die ich rauschartig auch aus der Saucière auslöffle, erheben das Gericht in allerhöchste Genusssphären. Bessere Pfifferlinge habe ich übrigens auch noch nirgends gegessen. Absolut grandios!
Noch etwas länger verweile ich in diesem kulinarischen Rausch.
Währenddessen wird noch ein überaus schmackhaftes Sorbet aufgetischt, wenig später folgt das Dessert. Bei meiner Bestellung desselben vor ein paar Stunden schwankte ich zwischen etwas Fruchtigem mit Walderdbeeren, und einem Schokoladendessert. Ich entschied mich für Letzteres.
Es geht weiter mit einer Skulptur bestehend aus einer durchlöcherten Schokoladensphäre (von der eine Hälfte auf einem separaten Teller serviert ist) sowie geeister und cremiger karibischer Schokolade mit „Teeinfusion und Brombeernektar“ (chocolat carcaïbe, glacé et crémeux, infusé au thé, nectar de mûre de Mont Velay, € 35). Ich widme mich zunächst dem „Inneren“ der Kugel. Das ist allerhöchster Schokoladengenuss, doch irgendwie will der Funke nicht so ganz überspringen. Das ist ziemlich mächtig und bietet wenig Abwechslung. Etwas neidisch blicke ich auf das Erdbeer-Dessert neben mir, das ich nicht gewählt habe.
Über hundert kleine Walderdbeeren sind dort präzise und in kreisrunder Form nebeneinander angerichtet, darauf eine Quarkzubereitung. Daneben – separat serviert – findet man etwas Gebäck mit Vanille sowie ein Erbeersorbet.
Doch wozu neidisch sein? Nachdem ich die Schokoladenspeise größtenteils verputzt habe (bis auf das umständlich essbare Kugelgerüst), bestelle einfach noch zusätzlich die fraises des bois. (Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.)
Es ist fantastisch! Ein Superlativ eines fruchtig-süßen Dessert-Genusses. Es hätten auch tausend(!) Erdbeeren sein können, ich hätte sie alle gegessen.
Mir ist nach einem Café. Aus welchem Land die Bohnen sein dürften, fragt man nach. Äthiopien vielleicht? Oder lieber Kolumbien? Die Geschmacksunterschiede werden dabei versiert, aber jederzeit entspannt erläutert. Ich weiß nicht mehr, was ich auf diese mir nie zuvor gestellte Frage antworte. Ich bleibe einfach beim Schlaraffenland.
Die Macarons kommen. Ich wähle drei und probiere sie. Wehe dem, der nah am Wasser gebaut ist! Während ich versuche, Haltung zu bewahren und meine Glückstränen wegwische, verstehe ich, was der Kellner meinte: Es sind wirklich die besten Macarons, die man sich vorstellen kann.
Alles, das ich in einem perfekten Essen suche, habe ich hier gefunden. Das Essen im Epicure ist rein, makel- und schnörkellos und macht zutiefst glücklich. Dieses Niveau kann nicht überschritten werden. Wenn meine Suche nach ultimativem Genuss zu Ende sein müsste, wäre dies der perfekte Ort.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Epicure (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Eric Frechon |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 14.09.2012 |
Guide Michelin (F 2012): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |