Vier Jahre Trois Etoiles – ein Zwischenruf
Es war am Anfang des letzten Jahrzehnts, in dem ich anfing, wirklich gut essen zu gehen. Angefangen hat alles in meiner Heimatstadt Hamburg, genauer gesagt im Jacobs Restaurant, welches als bestes der Stadt galt. Erfahrung auf diesem Gebiet hatte ich kaum. Auf gutes Essen legte ich allerdings immer schon wert und habe weit vor meinen ersten (bewussten) Besuchen in Sternerestaurants Knochen in der heimischen Küche geröstet, um eine gute Sauce herzustellen und diese zu einem möglichst guten Fleisch zu genießen.
Vor allem diese Knochenarbeit in der heimischen Küche hat meine Sinne geschärft, um überhaupt zu verstehen, was gute Küche ausmacht und was man dafür in erster Linie benötigt: sehr gute Produkte und sehr viel Zeit. Dinge, die man also am besten solchen Menschen überlässt, die dies beruflich tun: Köche in einem anspruchsvollen Restaurant.
Die Tür, die ich damals geöffnet habe, um der Spitzengastronomie einen Besuch abzustatten, habe ich mittlerweile hinter mir geschlossen, und eine Rückkehr ist undenkbar.
Und so reise ich seit Jahren um die Welt und habe sehr viele Restaurants besucht, die als die besten der Welt gelten. Spätestens nachdem ich 2008 das legendäre El Bulli besuchte und von den mannigfaltigen Erlebnissen dort überwältigt war, wusste ich, dass ich meine Eindrücke nicht nur bildlich und schriftlich festhalten, sondern auch mit anderen Interessierten teilen wollte. Trois Etoiles war geboren.
Seitdem habe ich über zweihundertfünfzig Sterne „gesammelt“ (Stand: Juli 2012). Jedes der Restaurants besuchte ich dabei aus Leidenschaft und Freude am Essen – und oftmals auch von der Hoffnung angetrieben, noch Großartigeres zu erleben. Häufig erfüllt sich dieser Wunsch.
Genuss an erster Stelle
Auf diesem Weg ist vieles hängen geblieben. Unter anderem habe ich für mich gelernt, worauf es mir bei hervorragendem Essen wirklich ankommt: an erster Stelle steht der Genuss. Genuss impliziert für mich immer, dass ich ein Gericht „lecker“ finde und es am liebsten noch einmal essen würde. Das oberste Ende der Genussskala ist für mich, wenn ein Gericht in der Lage ist, starke Emotionen auszulösen. Sogar Tränen sind bei mir schon geflossen, nur aufgrund eines Bissens. (Dies ist mir zum ersten Mal passiert bei einem Dessert im L’Arnsbourg, dann bei einem Gericht mit Erbsen und Huchen im Aqua, bei einem Sorbet mit Zitrusfrüchten im Per Se sowie noch in wenigen anderen Fällen.)
Verantwortlich hierfür sind für mich das Produkt, das Handwerk und der daraus resultierende Geschmack. Weit weniger wichtig für mich sind dann Kreativität, Innovation, Präsentation – geschweige denn der Service, die Ausstattung oder das Ambiente im Restaurant. Häufig bedingt zwar das eine das andere, aber die „Implikationskette“ bleibt dabei unverändert.Manche Restaurants haben sich in meine Gedanken und Empfindungen über Essen regelrecht eingebrannt. Das sind prägende Erlebnisse, die ich immer heranziehe, wenn es darum geht, eine ähnliche Speise zu bewerten oder zu genießen.
Weniger Schnickschnack
Dabei ist mir im Laufe der Zeit eines immer klarer geworden: Meine wirklich prägenden kulinarischen Erlebnisse beziehen sich – mit ganz wenigen Ausnahmen – nahezu ausschließlich auf jeweils ein großartiges Produkt oder eine benennbare Zutat.
Eine „Variation von X, Version 2012, dazu ein Schaum von Y, angegossen mit Z“ kann hervorragend schmecken, aber prägend fürs Leben ist für mich immer nur „der Wolfsbarsch im L’Ambroisie“, „der Kaisergranat im Le Meurice“ oder „das Steak bei Peter Luger“. Keine „Variation“, kein „Spaziergang“ (seit wann kann man den essen?), keine „Komposition“, kein „Arrangement“, sondern Produkte, die man beim Namen nennen kann.
Dies kann nur derjenige nachvollziehen, der Vergleichbares erlebt hat. Wer in die einschlägigen Sternerestaurants deutscher Großstädte einkehrt, wird so etwas nicht erleben. Er wird mal mehr, mal weniger begeistert sein, sich aber irgendwann zu Recht fragen, was der ganze Schnickschnack soll. Er wird dann vermutlich auch den Guide Michelin in Abrede stellen und zum Schluss gelangen, dass dieser ganze „Sternezirkus“ nichts für ihn sei.
Wie falsch er damit liegen kann! Der Michelin straft zwar eine Küche mit vielen Komponenten nicht ab – solange sie in ihrer Kategorie „sehr gut“ oder besser ist –, doch das Problem mit dem „Schnickschnack“ und allem was dazugehören kann (steifer Service, Kronleuchter, betagt-betuchtes Publikum) ist fast ausschließlich ein deutsches. Das ist allerdings viel weniger ein Problem deutscher Köche, sondern eher das deutscher Restaurateure und noch viel mehr das Problem des deutschen Essers und seiner vorwiegenden „kulinarischen Unintelligenz“.
So fragen mich Leute in meiner Heimatstadt Hamburg häufig, wo man denn gut essen könne. „Es muss aber keinen Stern haben“, höre ich oft und verzweifle. Denn was die Fragenden wirklich meinen ist meist, dass es nicht zu teuer und nicht zu förmlich sein soll. Aber eine „sehr gute Küche“ (= ein Stern), die sollte doch jeder wollen, wenn er essen geht – und er sollte sie auch bekommen können, preiswert und ungezwungen! Wo seid Ihr, Ateliers de Joël Robuchon, Redd und The Spotted Pig? Ich brauche euch hier!
Neue Welt und Alte Welt
Apropos. In Frankreich und in den USA verhält sich das alles völlig anders. Ich führe gerade diese beiden Länder an, weil es diejenigen sind, in denen ich mich kulinarisch und gastronomisch am besten aufgehoben fühle. Frankreich bleibt für mich das Land mit dem besten Verständnis für großartige Produkte (und auch das Land mit der besten Verfügbarkeit ebendieser), verbunden mit meisterhaftem Handwerk. Die Franzosen adaptieren kulinarische Trends, wenn überhaupt, nur sehr behutsam. Sie übernehmen nichts unbedacht, sondern reagieren feinfühlig und bewahrend, wie bei ihrer Sprache. Das ist konservativ für den einen, aber genusswahrend für mich. Dass auch dort Modernes gelingt, ist nur die Bestätigung hiervon.
In den USA gilt Ähnliches. Auch dort, gerade in den großen Städten der Ost- und Westküste, sind fantastische Produkte verfügbar, die in Küchenstilen mit unterschiedlichen Einflüssen Verwendung finden. Im Westen blickt man ein wenig mehr nach Japan, im Osten eher nach Europa – und das heißt in der Regel Frankreich. Doch in den USA kommt ein weiteres Element hinzu, das man in Europa (in Deutschland sowieso) in Verbindung mit hervorragender Küche häufig vermisst: Ungezwungenheit. Restaurants, die vor Lebhaftigkeit und jungen Leuten pulsieren wie nirgendwo sonst und dabei gleichzeitig eine Küche servieren, die hervorragend ist – das gibt es fast nur dort. Ich habe in Kalifornien Gerichte um die fünfzehn Dollar gegessen, die einfach und großartig waren, wie nirgendwo in Deutschland oder Frankreich zu diesem Preis. Hierzulande heißt es dann, die Sterne würden in den USA „leichter vergeben“ als in Europa. Das entspricht jedoch überhaupt nicht meiner Erfahrung, weshalb ich dem Michelin für seine überwiegende und konkurrenzlose Verlässlichkeit auch so dankbar bin. Die Kombination von sehr guter Küche zu günstigen Preisen in ungezwungener Atmosphäre existiert hierzulande nicht.
Und jetzt?
Aber der Guide hin oder her, mir geht es bei meinen kulinarischen Reisen nach wie vor darum, wahrhaftigen Genuss zu erleben. Ich reise dem Genusserlebnis hinterher wie andere ihrem Fußballverein. Dabei bin ich stets auf der Suche nach dem weiteren Schlüsselerlebnis – dem noch besseren Wolfsbarsch, der noch besseren Tomate, dem ultimativen Schokoladenkuchen. Finde ich einen solchen Superlativ, ist das ein rarer Glücksmoment, den es sich auf der ganzen Welt zu suchen lohnt.
Das Land mit den mittlerweile meisten Michelin-Sternen ist Japan. Dort gibt es Restaurants mit der höchsten kulinarischen Lobpreisung (drei Sterne), die in einem Parkhaus untergebracht sind und nicht einmal eine Weinkarte haben. Was zählt, ist das Produkt. Bald werde ich ganz sicher diese Reise in Angriff nehmen. Und in der Zwischenzeit freue mich gleichermaßen auf alle weiteren, neuen Erlebnisse in dieser faszinierenden, genussreichen Welt. Es gibt viel zu probieren! Ich werde berichten.