Agapé Substance – Haute Cuisine à point
Das kleine Restaurant im sechsten Arrondissement öffnete erst im letzten Sommer seine bescheidene Eingangstür, und binnen rekordverdächtiger Zeit wurde das Lokal zum Liebling von Essensenthusiasten – nicht nur in Paris. Sogar Thomas Keller war hier schon essen. Zahlreiche Blogs und andere Medien sind seitdem einstimmig begeistert; lediglich der Michelin hielt sich für seine aktuelle Ausgabe noch zurück und nahm das Restaurant nur als sternelose Empfehlung in den Guide auf.
Mit meinem heutigen Besuch, zehn Monate nach der Eröffnung, komme ich mir beinahe vor, als ich hätte ich schon alles verpasst. Doch Küchenchef, Mitinhaber und Ex-Arpège-Koch David Toutain fängt gerade erst richtig an und sprudelt nur so vor Ideen.
Das schlauchförmige Restaurant ist nur wenige Meter breit und wird der Länge nach von einem Tresen beansprucht. Dieser dient im vorderen Bereich als Esstisch für die Gäste und übernimmt weiter hinten dann die Funktion als Arbeits- und Anrichtetisch fürs Küchenpersonal.
Bis auf den Fußboden sind nahezu alle Wände verspiegelt. Das lässt den Raum nicht nur größer erscheinen, sondern ermöglicht auch bizarre Blickwinkel: ich sehe links die Küche, obwohl sie rechts von mir ist; ein Blick nach oben bietet eine Draufsicht auf den eigenen Tisch usw.
Ich sitze heute Abend an der table zéro, dem chef’s table, nur wenige Zentimeter direkt hinter dem Küchenchef. Der Platz offenbart spannende Einblicke in das fleißige Treiben des erstaunlich wortkarg kollaborierenden Küchenteams. Nur von Toutain gehen hin und wieder ein paar „klare Ansagen“ aus, wenn mal etwas nicht ganz nach seiner Façon läuft. Küchenalltag eben.
Die Speisekarte bietet vier Menüs (je zwei „Carte Blanche“ und zwei „Substance“, von € 99 bis € 199 inkl. Weinbegleitung), die sich jeweils durch ihren Umfang und die Art der Produkte unterscheiden – wie genau, ist nicht ersichtlich. Diese beabsichtigte Unklarheit stört mich jedoch nicht im Geringsten; ich habe schließlich bereits einige der besten Essen „kartenlos“ am Tresen genossen.
Da ich auch heute Abend den umfangreichsten Eindruck der Küche erhalten möchte, wähle ich das größte Menü und überlasse alles Weitere den Ideen und dem Können Toutains und seines Teams. Auf diese Weise werde ich in den nächsten drei Stunden an die dreißig Gänge verkosten.
Der Spaß beginnt bereits vor der Menüwahl mit zwei Kleinigkeiten, von denen ein Teller mit jungen Karotten und Misocrème ganz besonders zu begeistern weiß.
Weiter geht es (hier an der table zéro stets von Toutain persönlich serviert, der sich dafür lediglich zu uns umdrehen muss) mit etwas Schwammartigem von der Erbse mit Eisenkraut und zwei kleinen Ingwerkuchen mit Forellenkaviar, beides interessant und stimmig. Man spürt, dass das Niveau noch nicht oben angekommen ist, aber immer weiter anzieht – ein großer Unterschied zu Restaurants, in denen man lediglich auf Besseres hofft.
Ebenfalls gut bis sehr gut sind dann gefüllte Kartoffelchips mit Blauschimmelkäse und Birne sowie puderförmige Algen mit Muschelsud.
Dann, nach einem texturell sehr interessanten, aromatisch jedoch eher zaghaften Gericht mit Spargel, Ei und Kaviar folgt fast nur noch restlos Begeisterndes:
Eine heiß-kalte weiße Spargelmousse mit Eigelb, Rauchöl und Velouté von grünem Spargel ist hervorragend, die Champignons de Paris mit Kaffee sind dann schlicht genial und verdienen ohne Zögern eine Aufnahme in die Liste meiner besten Gerichte.
Heiß, laut und stickig ist es mittlerweile geworden. Die verspiegelten Wände sind beschlagen von Küchendunst und atmenden Essern. Es steht bereits die vierte Flasche Chateldon (€ 8) auf dem Tisch. Apropos Getränke: die muss man sich hier teilweise erkämpfen. Der Sommelier hinkt mit seiner überwiegend guten Weinauswahl sichtlich hinterher und wirkt etwas überfordert. Streckenweise stehen fünf leere Gläser vor einem.
Doch all das ist kein Anlass zur Klage. Dieser Ort ist modern, jung und pulsierend. Es macht Spaß hier, und die Kreationen schmecken wunderbar! Und bevor man noch länger über diesen Ort sinnieren kann, fährt Toutain mit seiner Speisenfolge fort, stets wachsam, fast nie lächelnd, weil voll konzentriert, aber dennoch sympathisch.
Ein flüssiges Ei auf einer Maiscreme mit Kreuzkümmel und Karamell bietet Süffigkeit pur; eine Auster in Limonensud(?) bringt Ozeanfrische an den Tisch (wenngleich auch nie wirklich mein Favorit).
Und was für manche die Auster, sind für mich Erbsen. Ich verehre diese kleinen grünen Dinger abgöttisch und ließe für sie so Manches stehen – sofern sie so schmecken wie von Paul Bocuse illustriert. Ein Exkurs:„Frische Erbsen sind […] anspruchsvoll. Man muss sie beispielsweise sofort nach dem Pflücken essen, wenn man sie wirklich in idealer Güte genießen will. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt werden kann – was nur selten der Fall sein wird [sic!] –, muss man sie unbedingt in den Schoten aufbewahren […]. Aber auch auf diese Weise halten sie nur 12 Stunden. Ist man gezwungen, sie länger aufzubewahren, so muss man sie auspalen […]. Sie würden sonst nämlich anfangen zu schwitzen und muffig zu werden – schlichtweg eine Katastrophe.“ (aus Das Paul Bocuse Standardkochbuch).
Die Exemplare in meinem nächsten Gericht würde Bocuse ohne jeden Zweifel abnicken. (Womöglich sucht man sie in seinem Restaurant sogar vergeblich.)
Die Erbsen mit Rhabarber und Orangenblüte sind die besten Erbsen, die ich je gegessen habe. Murmelgroß, leuchtend grün, knackig frisch und betörend süß erheben sie dieses Gericht in höchste Genussspähren. Produktküche par excellence.
Zack auf Zack fährt die immer tiefer beeindruckende Darbietung fort, jetzt mit einer heißen grünen Spargelspitze mit Praliné und Orange (exzellent!) sowie nicht weniger als sensationellen Gnocchi mit Fava-Bohnen, Minze, und Olivenöl als Puder und Kaviar.
Ein Tintenfisch mit Bärlauchcreme ist zum Reinlegen gut; die behutsam gegarte Rotbarbe mit Karotte und Kakao ebenfalls sehr gut. Besser als sehr gut ist dann wieder alles Weitere.
Morcheln mit Haselnuss und weiteren kleinen Pilzen sind wundervoll „waldig“; und Aal, Foie Gras und Sesam schmeckt hervorragend rauchig.
Eine Art aufgesprühte Nocke mit Foie Gras und einem Jus von Kartoffelhaut(!) begeistert ungemein; ebenso wie Kalbsbries mit Sellerie und grünem Apfel. Es sind fantastische Kombinationen, die Toutain hier ersinnt.
In Form eines prächtigen Stücks Saint Nectaire kommt der Käsegang daher – ganz so, wie ich ihn am liebsten mag: als ein einzelnes, gutes Stück Käse.
Ein Olivenöleis mit Zitroneist in wunderbar cremig, und die Zitrone betört mit ihrer süßen Säure. Toutain erklärt, das Olivenöleis sei nicht aus aromatischen Gründen auf dem Teller, sondern wegen des Fettgehalts – für die Cremigkeit eben. Ein hervorragender Einfall, wohlschmeckend umgesetzt. Auch die Erdbeere mit Petersilie(!) kann sich schmecken lassen – ganz und gar phänomenal.
Die weiteren Desserts, Banane und Eis von fermentierter MilchsowiePaprika/Himbeer/Schokolade sowie ein weiteres Schokoladendessert bilden den Abschluss dieses beeindruckenden Menüs, das zu meinen besten und spannendsten der letzten Zeit zählt.
Manche Gerichte erinnern mich sehr ans Noma, doch das Agapé Substance trumpft da auf, wo der dänische Kollege hinterherhinkt: beim Wohlgeschmack und der Produktwahl. Andersherum wäre es jedoch durchaus legitim, eine individuelle „Handschrift“ oder ein „Thema“ Toutains zu vermissen – der für mich einzig plausible Grund für das Nichterteilen eines dritten Sterns (nicht jedoch aller).
Wie man es dreht und wendet: David Toutain hat mit diesem Restaurant eine kleine Perle zeitgemäßer Gastronomie geschaffen. Spitzenküche in vibrierender Atmosphäre, befreit von jeglichem Ballast, dazu flexibel und verhältnismäßig günstig (wir sind in Paris!). Das ist Haute Cuisine auf den Punkt, reduziert auf ihre substance.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Agapé Substance (→ Website) |
Chef de Cuisine: | David Toutain |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 12.05.2012 |
Guide Michelin (F 2012): | empfohlen |
Meine Bewertung dieses Essens |