Victor’s Gourmet-Restaurant Schloss Berg – Voyage, voyage!
Ein banaler Schnupfen ist nicht weiter tragisch. Am Montag klang bereits alles ab. Gutes Timing für meine Reservierung am Samstag. Dachte ich. Dann verließ mich mein Geschmackssinn. Auch am Dienstag keine Änderung. Meine gustatorische Wahrnehmung war vollständig auf die fünf Grundgeschmacksrichtungen beschränkt. Das ergibt zwar immer noch fünfundsiebzig verschiedene Geschmackserlebnisse, doch Christian Bau im „Schloss Berg“ hat ohne Zweifel Anspruchsvolleres vor. Mittwoch wurde ich nervös, Donnerstag panisch.
Am Freitag war dann Besserung in Sicht, und abends konnte ich wieder das breite aromatische Spektrum meiner Zahnpasta wahrnehmen, von Saccharin bis Menthol. Nie zuvor hat das so gut geschmeckt.
Heute, am Flughafen, habe ich auch noch meinen Führerschein vergessen. Ohne diesen werde ich zwar in Frankfurt landen können, jedoch meinen Mietwagen nicht bekommen, um weiter nach Perl ins Saarland zu fahren. Gerade noch rechtzeitig rettet mich ein rasanter Taxifahrer aus der desolaten Situation. Eine halbe Stunde später sitze ich endlich im Flugzeug, sieben Stunden später am Tisch.
Der kürzlich modernisierte Speisesaal des Restaurants in dem über neunhundert Jahre alten Schloss ist schnörkellos und gemütlich. Die überwiegend in Weiß und Cremetönen gehaltene Einrichtung wird, neben der holzvertäfelten Decke, durch einige rote Akzente kontrastiert – ein behutsamer erster Hinweis auf die japanischen Einflüsse der hier servierten Hochküche. Wie bei jedem Besuch eines mir noch unbekannten (Drei-Sterne-)Restaurants ist meine Spannung groß; hier sogar noch ein wenig größer, ist doch der Stil Christian Baus in keine Schublade einzuordnen außer seiner eigenen. Was das genau bedeutet, weiß ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht genau, doch es wird sich mir in den folgenden sechs Stunden am Tisch eindrucksvoll offenbaren. Ab jetzt begebe ich mich also in die Obhut der Carte Blanche des „Voyage Culinaire“. Das bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass es hier nur ein Menü gibt, aus dem man die Anzahl der Gänge auswählt. So „weiß“ wie bspw. im Noma (wo man die Gänge vorher nicht einmal lesen kann) ist die Karte also nicht. Dennoch ermöglicht diese Vorgehensweise offenbar eine fast schon unangenehm preisgünstige Kalkulation (z. B. € 170 für diverse Amuse-Bouches, fünf reguläre Gänge und Desserts), und sie ist auch einzig schlüssig bei dieser Art von Küche.
Den Start der Reise machen die kulinarischen Einstimmungen, beginnend mit einem herzhaft-frischen Parmesanknusper mit Yuzukonfitüre, den man vergnügt genießt, sowie gewürzte Cashewnüsse und geräucherte & gesalzene Mandeln, die herrlich zum Champagner passen.
Nicht weniger als phänomenal ist dann gleich die Auster mit schwarzem Reisessig & Combawa, die famos mit Meeresaroma, Süße und Säure spielt. Ich bin nicht gerade verrückt nach Austern, doch diese beweist wieder einmal, dass es eben immer darauf ankommt.
Auf dem Tisch stehen auch schon diverse weitere Kreationen. Das Cornet vom Bio-Rind mit Räucheraal & Kaviar ist herzhaft, rauchig, wunderbar; ein roter Gamberoni mit Lardo & Kaviar ebenso gut. Die Knuspertarte mit King Salmon, Auster, Yuzu & Avocado und ein grüner Teebisquit mit Krustentier & Kimizu runden die eindrucksvolle Batterie vollends begeisternder Amuse-Bouches ab.
Doch der Anfang ist noch nicht am Ende. Das eigentliche Menü beginnt erst nach dem Taschenkrebs (kalt & warm) mit eingelegter Wassermelone – ein Gericht, das betörend, aber behutsam, mit Temperatur und Textur spielt –; sowie einer Holzmakrele (Sashimi, Bauch über Holzkohle, Miso gebeizter Rücken) mit japanisch eingelegtem Gemüse & Algen mit unzähligen fremdartigen, wohlschmeckenden, ausnahmslos harmonischen Zutaten und einem dazu separat gereichten, würzigen Sud; und dann noch einem perfekten Süppchen „‘Schlosskastanie’ trifft Albatrüffel“, das jede Frage, ob in der japanisch inspirierten Küche Baus auch „klassisch“ gekocht werden kann, souverän beantwortet, bevor sie jemand stellen könnte. Wer das edle Porzellanschälchen nicht bis auf den letzten Milliliter ausschlürft, verpasst viel.
Zeit zum Verschnaufen. Der Speisesaal ist inzwischen voll besetzt, dennoch angenehm leise, und das gesamte Serviceteam, unter der herzlichen Leitung von Frau Yildiz Bau, ist von zeitgemäßem Profil, das heißt: jung, freundlich, entspannt, kompetent, unaufdringlich. Es stimmt also alles. Ich hätte größtes Verständnis für jeden, der allein der bisherigen Speisen wegen hierhin reist.
Die folgenden elf Gänge zelebrieren dann ein kulinarisches Gesamtkunstwerk, das jedoch – im Gegensatz zu vielen Werken der bildenden Künste – völlig ohne Hintergrundwissen und Interpretationsbedarf genossen werden kann. Denn so komplex und aufwändig die folgenden Kreationen auch sind, erschließt sich einem der Sinn jedes Werkes unmittelbar am Gaumen: größtmöglicher, purer Genuss. Man kann alle Gänge so unbeschwert genießen wie ein perfektes Huhn mit goldbrauner, knuspriger Haut, Thymiankartoffeln aus dem Ofen, Olivenöl und Meersalz – nur, dass es hier ungleich mehr zu entdecken gibt.
Zum Beispiel, als erster Gang des Voyage Culinaire, die „Langoustine“, die in verschiedenen Zubereitungsarten („Déclinaison“)auf verschiedenen Tellern zubegeistern weiß. Naturbelassen als Carpaccio; behutsam gegart mit leicht krosser Kruste; als Teigtasche in einem hochfeinen Sud; und roh mit Joghurt und weiteren Komponenten. Ein Gericht, das an diesem verregneten Wintertag herrlich nach Sommer schmeckt.
Virtuos ist der „Tuna aus europäischem Fang“ (warum nicht „Thunfisch“?) mit Entenleber, Mangostane und schwarzen Trüffeln. Man kann sich kaum entscheiden, wo man mit dem Probieren beginnen soll, doch das spielt ohnehin keine Rolle, schmecken tut es immer. Und wie! Der Thunfisch ist in allen Varianten (Tartar, Carpaccio, leicht gebraten) vorzüglich, und jedes noch so kleine Teil auf dem Teller ist ein Puzzleteil der Gesamtkomposition, das man unter keinen Umständen vermissen möchte.
Die Gänseleber aus dem Elsass, zu der der sympathische Sommelier Daniel Kiowski eine sehr gut passende 1999er Zeltinger Sonnenuhr Auslese von J. J. Prüm serviert, ist als Terrine in Algen eingerollt und wird unter anderem mit einer feinen Pilzvinaigrette serviert. Noten von der Zitrusfrucht Sudachi sorgen für angenehm frische Akzente, und eine hauchdünne, leicht krosse Scheibe vom Kräutersaitling sorgt für weitere Spannung am Gaumen. Eines meiner besten Gänselebergerichte, voller interessanter Kontraste, das mich jedoch leider in einer temporären Phase von (unbegründeter) „Gänselebermüdigkeit“ erwischt.
Es geht weiter mit „Coquille Saint-Jacques", eine Kreation, die eine riesige, leicht gegrillte, bissfeste Jakobsmuschel von herausragender Qualität in den Mittelpunkt stellt (es ist das beste Exemplar, das ich je gegessen habe) und mit leicht süßlichen „Butternut-Kürbis-Strukturen“, knackigem Pak-Choi, Estragon und „Purple Curry“ huldigt. Ganz große Produktküche!
Die Reise führt weiter zum blauen Hummer, der „in Butter sanft pochiert“ wurde und mit Erbsen, Kombualgencreme und einer „Brühe von Jasminreis mit Kokosinfusion“ serviert wird. Die Erbsen sind von einer Frische, die auch Paul Bocuse abnicken würde, und zu Hummer ohnehin mein favorisierter Mitspieler. Ein herrliches, zugängliches Gericht voller Harmonie, Leichtigkeit und aromatischer Tiefe.
Es ist jetzt viertel nach zehn. Vereinzelt gehen Gäste zu Kaffee und Co. über, was mich schmerzlich daran erinnert, dass auch dieses Essen ein Ende haben wird. Doch ein kurzer Blick ins Menü reicht, um alle Gedanken dieser Art für die nächsten Stunden wegzuwischen. Es ist gerade erst kurz vor der Halbzeit.
Nächster Zwischenstopp der Reise ist der auf der Haut gebratene „Bar de Ligne“. Natürlich ist die Qualität hervorragend, der Gargrad perfekt, aber an diese – immerhin auch nicht überall selbstverständlichen – Leistungen denkt man hier gar nicht. Beim Verarbeiten so neuartiger Geschmackseindrücke wie die, die hier entstehen – wenn der pure Wolfsbarsch, ein Stück rauchigen, fetten Aals, die Herzhaftigkeit eines Dashi-Suds und knusprige Quinoa-Samen am Gaumen zusammentreffen –, denkt man nicht. Man genießt nur.
Es folgt Kalbsherzbries mit Yamwurzel, Brösel von schwarzem Knoblauch, Enokipilzen und einer „japanischen Hollandaise“. Bereits das zarte Bries, das am Gaumen zergeht wie Butter, und der herzhafte dunkle, perfekt zubereitete Jus (auf Kalbsfondbasis?) wären wohl das Traumpaar des Jahres, doch auch die weiteren Zutaten tragen alle ein weiteres I-Tüpfelchen zu der unvergesslichen Kreation bei. Etwas klassischer als bisher, aber eben doch mit der raffinierten Prise Exotik, mit der Bau und sein Team bisher jedes Gericht einzigartig gemacht haben. Es ist für mich das beste Gericht des Abends, natürlich nicht mit großem Abstand und auch nur vorausgesetzt, ich müsste mich festlegen. Ich muss es zum Glück nicht.
Nach einer weiteren „Einstimmung“ in Form eines etwas zu süßen Kompotts von der Rehschulter mit schwarzen Oliven wird mein „Hauptgang“ serviert. Es ist jetzt viertel vor zwölf, und ich kämpfe bereits ein wenig. Doch es ist ein Kampf, den ich gerne führe, denn aus ihm gehen nur Gewinner hervor: die Küche und der Gast. Dieses Paradoxon führt auch der Rehrücken aus der Eifel fort, im Menü untertitelt mit „Rücken und Kompott / die ‚Farben des Winters‘ in Struktur / Rehjus mit Mole“. So ganz erschließen sich mir die genannten Farben nicht, doch was soll’s, auch dieses Gericht ist exzellent. Phantastisches Fleisch mit hervorragender Sauce und einem Baukasten an weiteren Komponenten für stets interessante, eindrucksvolle Geschmacks- und Texturkompositionen.
Langsam trüben sich meine Sinne – doch was wissen die schon. Die wissen zum Beispiel nicht, dass es jetzt zu den überwiegend hervorragenden Desserts übergeht. Pünktlich zu Beginn des neuen Kalendertages erreicht mich Apfel & Nuss, ein ganz hervorragendes, „haselnussiges“ Dessert mit vielen knusprigen Kleinigkeiten, kühlen Akzenten und einer zurückhaltenden Süße.
Danach, Valrhona „Grand Cru“ mit „Schokoladen-‚Trüffel‘, Waldboden und Vanille-Trüffelrahmeis“, das zwar ohne Frage originell ist, mich aber durch die Trüffelaromen eher ein wenig irritiert als begeistert.
Dort, wo im Menü das Wörtchen „oder“ stand, habe ich mir ein „und“ gewünscht, deshalb folgen jetzt noch exotische Früchte in Form eines „marmorierten Sorbets“ mit Passionsfruchtcreme, Ananas und Kokosnuss. Das sieht irgendwie so aus wie eine irreale, einladende Landschaft, in der man gerne mal spazieren gehen möchte und schmeckt auch noch vorzüglich – bis auf diese große zerplatzende „Sphäre“, die ich nach meinem Besuch im El Bulli eigentlich nie wieder essen wollte. Dennoch in Summe große Klasse. Nichts bleibt davon übrig, außer einer süßen Erinnerung.
Abgesehen von der Tatsache, dass ich vermutlich niemals zuvor so viel gegessen habe – ähnlich viel, aber eben nicht so viel –, gehen für mich mehrere Erkenntnisse und Erfahrungen aus diesem Abend hervor. Der Stil von Christian Bau, den man vielleicht mit „japanisch inspiriert, klassisch fundiert“ beschreiben könnte, ist von wohltuender Einzigartigkeit und höchster Originalität. Die Gerichte sind aufwändig zubereitet, überaus vielfältig und – das ist wohl die wichtigste Erkenntnis – dabei dennoch sehr zugänglich und ausnahmslos von großem Wohlgeschmack. Eine enorme Leistung, und eines meiner besten Menüs aller Zeiten. Glücklich und satt robbe ich mich auf mein Zimmer im Schloss.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Victor’s Gourmet-Restaurant Schloss Berg (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Christian Bau |
Ort: | Perl-Nennig, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 03.12.2011 |
Guide Michelin (D 2012): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |