Falco – im Tiefflug über Leipzig
„Die heute im deutschen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung Turmfalke weist darauf hin, dass Turmfalken auch menschliche Bauwerke als Brutplatz nutzen und dabei bevorzugt in den obersten Regionen nisten.“ (Quelle: Wikipedia)
Wer sich hiervon überzeugen möchte, der sollte im Restaurant Falco des Hotels Westin Leipzig einkehren — auch, wenn einen das Äußere des Hotelgebäudes zweimal darüber nachdenken lässt, ob man nicht lieber einen großen Bogen darum machen sollte.
Oben, im siebenundzwanzigsten Stock, nisten tatsächlich die imposanten Greifvögel in einem außen angebrachten Verschlag. Während der Brutzeit kann man dann in der Bar des Restaurants das gefiederte Spektakel bei einem Glas Champagner auf einem Monitor betrachten. Heute Abend ist keine Brutzeit, doch ein schlafender Falke ist später dennoch auf dem Sims in schwindelerregender Höhe auszumachen.
Der Empfang im Restaurant ist herzlich und das gesamte Personal von Beginn an unkompliziert, charmant und professionell. Nahezu jeder Tisch offenbart dem Speisenden eine Aussicht über das nächtliche Leipzig, wie sie sonst nur Vögeln gegönnt ist. Während diese jedoch für ihre Beute nichts zahlen, muss der Gast im Falco dafür recht tief in die Tasche greifen (z. B. € 288,- für das dreizehngängige(!) große Degustationsmenü). Dafür ist die Weinkarte wiederum äußerst fair. Es ist möglich, fast beliebige Weine glasweise verkosten; gern öffnet der kompetente Sommelier die gewünschte Flasche. Ich ziehe meinen (imaginären) Hut vor diesem mutigen, aber einzig schlüssigen Konzept. Essenspreise hoch, Weinpreise runter – das halte ich in vielen Restaurants für angemessen und nachvollziehbar. Ich zahle lieber dreihundert Euro für ein Essen, das ich niemals selbst zubereiten könnte als dreihundert Euro für eine Flasche Wein, die ich für fünfzig selber im Keller habe. (Aber diese ganze Preis-Diskussion bedarf beizeiten mal einer eigenen kleinen Abhandlung.)
Zum Champagner (Mailly Rosé Grand Cru) werden eine Reihe Amuse-Bouches serviert. Der Langustinen-Beignet à la Puttanesca ist saftig, kross und leicht pikant; die Schieferplatte offeriert mit Haferflocken-Creme, Bergamotte, Mozarella pulverisiert; Aal/Gurke & Hendrick’s Gin sowie Hühnertee & Kräcker „thailandaise“ außer des hocharomatischen Süppchens nichts wirklich Begeisterndes.
Sehr gut finde ich das Angebot vom Sommelier, nicht nur mir, sondern auch meiner Begleitung die Weinkarte zu reichen. Auf diese Weise langweilt sich während der Auswahl niemand, und man kann gemeinsam darin stöbern. Eine einfache und erfrischende Idee.
Es werden jetzt einige Teigerzeugnisse und Beilagen auf dem Tisch platziert, die offenbar als Substitut für herrlich duftendes Brot und gesalzene Fassbutter herhalten sollen. Es handelt sich dabei um eine Art Teigskulptur (steinhart und ungenießbar), dazu weiteres Gebäck in Stäbchenform (auch ziemlich trocken), eine Steinpilzcreme (äußerst unpassend) und geleeartige Drops, an deren Zutaten ich mich nicht mehr erinnern kann (Frischkäse/Yuzu?). Ich sehne mich nach dem Duft und dem Biss hausgemachten Brotes… Schwamm drüber, es kann nur besser werden und hat ja nicht einmal richtig begonnen.
In der Tat ist der weitere Gruß, Lachs roh, gehacktes Eigelb, Hüttenkäse, Litschi, Emulsion von Haselnussöl mit Pfefferminze und frischem Meerrettich um Längen besser. Der Lachs ist von sehr guter Qualität und ergibt mit den weiteren Zutaten ein kleines, aber feines harmonisches Ganzes. Ein Hauch Meersalz hätte indes noch für einen kleinen „Anschub“ sorgen können.
Als nächstes folgt ein weiteres Gericht vor dem eigentlichen Menü – geräucherte Entenstopfleber mit grüner Olivencreme, Mais-Crunch und Erdbeer-Gel. Die Präsentation wirkt etwas unbeholfen, aber die aromatische Komposition gefällt. Die Erdbeere ist ein gelungener Mitspieler der Foie Gras, und die feinen Maisbrösel sind angenehm kross dazu. Nicht hervorragend, aber gut.
Bei dem dreizehngängigen Menü, das erst mit dem nächsten Gericht beginnt, lasse ich mir von vornherein offen, eventuell den einen oder anderen Gang auszulassen, denn bereits die Speisekarte suggeriert durch die dargebotene Vielfalt und Produktauswahl, dass es sich nicht um minutiöse Portionen handeln wird. Den Beginn der Reise macht Knusprige rote Bete mit Kokosnuss und Kaviar Prunier Héritage.
Eine Schieferplatte zieren zwei mit Kokosnussschaum gefüllte und mit Kaviar getoppte Röllchen, die aus dehydrierter roter Bete bestehen. Wenn man die richtige Dosierung der einzelnen Komponenten auf seine Gabel bekommt (was nicht ganz einfach ist, da man das Ganze etwas umständlich dekonstruieren muss), ergibt sich ein überzeugender Gesamteindruck, bei dem verschiedene Texturen und Aromen gut harmonieren. Es gelingt (mir) jedoch nicht immer, diese richtige Kombination zu finden, und immer dann überwiegt der eher unvorteilhafte Eindruck einer etwas zu süßen Kokoscreme, löschpapierartiger roter Bete, die lästig am Gaumen klebt und Kaviar, der in alldem geschmacklich unterzugehen droht. Ein Gericht, das nur dann überzeugt, wenn man „alles richtig macht“.
Das Kaninchen-Sandwich (Leber und Niere in Pistazienöl pochiert) mit Calamaretti à la plancha, Birnen-Relish scharf und Brioche-Eiscreme lasse ich nach einigem Probieren fast komplett stehen. Die Innereien sind mir zu „schmierig“ (was in ihrer Natur liegen mag), und die anderen Zutaten sind trocken, bröselig, unpassend (Birne? Eis??) und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Auch habe ich mir selten eine gut gemachte, klassische Sauce mehr herbeigewünscht als hier. Leider für mich ungenießbar.
Nur marginal besser ist das Gericht Taschenkrebs-Keks façon „Oreo“, Entenstopfleber in Malzbier gegart, cremierter Bohnensalat mit Speck, Kiwi und kandiertem Ingwer. Die Kekse bestehen aus einem zu harten Teig und einer monotonen Füllung, die Stopfleber ist allenfalls gewöhnlich, und das sonstige Gemüse wirkt verloren und uninspiriert. Von Harmonie und Wohlgeschmack keine Spur, und abermals ist das Gesamtempfinden sehr trocken.
Spätestens jetzt haben sich hinsichtlich des Essens Frustration und Hoffnung eingestellt. Zwar tragen der charmante Service, der gute Wein und die tolle Aussicht dazu bei, die Stimmung des Abends nicht allzu sehr zu trüben, doch kulinarisch ist das schon recht enttäuschend. Mit Genuss hat das bisher alles nichts zu tun — und das ist zumindest für mich der zentrale Anspruch an jedes Restaurant, vor allem auf diesem Preisniveau.
Die Jakobsmuschel (roh / gegrillt) und Périgord-Trüffel mit Blaukraut-Entenleber-Flan, Wintergemüse dehydriert und Yuzu-Nage ändert am bisherigen Eindruck nichts. Hier wird der Esser konfrontiert mit einem auf dem Teller aufgemalten lila Streifen, dehydriertem (pappigem) Gemüse, einer gewöhnlich gegrillten, hoffnungslos verlorenen Jakobsmuschel, einem fast neutral schmeckenden „Stab“ aus bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten Ingredienzen und einem einigermaßen akzeptablen Arrangement aus roher Jakobsmuschel, Trüffeln und – endlich mal – einer Sauce, die dieser Komponente etwas Halt gibt. Ich klammere mich an Strohhalme.
Der Winterkabeljau (Skrei), belgische Endive in Sobrasade-Öl konfiert mit Limonenkresse und Datteln, abgeschmeckt mit Fenchelsamen ist dann sehr gut. Ihn zu essen fühlt sich für mich in etwa so an, wie es einer Pflanze ergehen muss, die nach Wochen der mediterranen Hitze endlich wieder von einem Regenschauer zehren kann. Es gibt Sauce! Es gibt gut gebratenen Fisch von hervorragender Qualität! Die Aromen sind harmonisch und authentisch, Texturen wechseln sich gekonnt ab – das schmeckt richtig gut und ist so schnell verputzt wie das Regenwasser in der porösen Erde versickert wäre. Geht doch.
…Oder? Der St. Petersfisch mit Gemüsetartar von elf Gemüsen, Ananas-Taboulé mit Naan-Malto – abgeschmeckt mit Achiote-Gewürz – und Garam-Masala-Vinaigrette ist trist. Trotz einer abermals beeindruckenden Liste an Zutaten und Ideen auf dem Papier, fällt das Erlebnis auf dem Teller unbefriedigend aus. Der Fisch ist übergart, und das Gemüseallerlei schmeckt schlicht nach einer erkalteten Ratatouille mit indischer Gewürzmischung. Das kann man zwar essen, aber nicht genießen.
Der Blaue Hummer mit Corail-Biskuit, Tamarillo-Fruchtfleisch, Lauch-Staub, Lardo-Schmalz und Kamille-Crunch ist konsequent trivial. Der Hummer ist von guter, aber nicht überragender Qualität, die Saucen sind schwach, und der „aufgeschwämmte“ Corail ist nicht nur mit „Lauch-Staub“ bedeckt, sondern schmeckt auch so. Wie gut wäre jetzt eine klassische, intensiv aromatische Hummer-Bisque…
Es folgt Wagyu-Beef à la Teppanyaki, aus der Schulter geschnitten/private selection mit Steckrübenkraut, Chorizo-Kirsch-Tapenade, Schwarztee-Mango-Aroma und Blumenkohl-Cous-Cous mit bitterer Kuvertüre Valrhona 100 %. Was für ein Titel. Doch was für eine Enttäuschung. Wo das Fleisch der Wagyu-Rinder ansonsten durch die hohe Fettmaserung einen typischen nussig-buttrigen Geschmack aufweist und jeden Bissen nahezu im Mund schmelzen lässt, ist dieses Fleisch mager und säuerlich. Die weiteren Zutaten würden gut dazu passen, bieten jedoch wenig Freude, wenn schon der Protagonist nicht überzeugt.
Einzig erfreulich ist in dieser Situation der 1999er Morey-Saint-Denis von Dujac, den wir mittlerweile glasweise verkosten (und später doch noch die Flasche schaffen).
Trotz meines hohen Sättigungsgrads und dem Auslassen einiger Gänge, schiebe ich jetzt noch einen kleinen Käsegang ein — ich brauche jetzt etwas Authentisches —, bevor ich mir ein Bild der Patisserie verschaffen kann.
Die Desserts, die folgen, reihen eine Enttäuschung an die nächste. Die Luftschokolade mit Malz-Steinen, Tomatenkernen, Pfefferminz und schwarzem Knoblauch erfüllt zumindest demjenigen, der sich jetzt auf süße Frivolitäten freut, keinen Wunsch. Die skurrile Aneinanderreihung von salzig-herzhaften Komponenten und Schokolade schmeckt grauenhaft (und ich verwende solch drastische Adjektive wirklich äußerst ungern) — genauso wie Petersilien-Haferflocken mit Nougat, Zitronen-Mayonnaise und Avocado-Bananen-Eiscreme, das geschmacklich an eine Portion Nutella mit Kellogg’s Smacks erinnert und auch optisch wegen der stark gelierten Zutaten bereits Skepsis statt Vorfreude aufkommen lässt. Und auch die pappigen Schwämme sind wieder da.
Schluss- und Tiefpunkt des Menüs bildet das weitere Dessert Red (Hibiskus / Rote Bete), White (weiße Amadei-Schokolade / Zitronengras / Gewürzjoghurt pulverisiert), das ich als regelrechte Zumutung empfinde. Die roten „Schwämme“ sind dieses Mal nicht pappig, sondern steinhart — das ist wohl Absicht —, und die sonstigen pulverisierten Zutaten sind so staubig und trocken, dass man aufpassen muss, sie nicht zu inhalieren. Auch die rote Bete dazu ist nicht automatisch gut, weil sie als Zutat in einem Dessert ungewöhnlich ist, sondern schlicht und einfach völlig unpassend. Das ganze Gericht ist hart, staubig, bitter und alles, nur kein Dessert. Ich lasse fast alles stehen und träume vom Schlaraffenland.
Traurig aber wahr — auch bei den Pralinen wurde strikt auf alles Bewährte verzichtet, und man muss Zutaten wie Wasabi, Balsamico, Ziegenkäse-Curry und Tomate über sich ergehen lassen.
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Regelmäßige Leser meiner Beiträge werden wissen, dass ich modernen Zubereitungsmethoden und ungewöhnlichen Kompositionen grundsätzlich sehr offen gegenüberstehe. Ich halte eine Trennung zwischen „modern“ und „klassisch“ sogar nicht einmal für besonders relevant, da „modern“ schlicht „zeitgemäß“ bedeutet. Und eine gute zeitgemäße Küche nimmt für sich nicht in Anspruch, mit allem Bewährten brechen zu müssen, sondern neue Erkenntnisse und Möglichkeit so einzuarbeiten, dass sie dem Gast gustatorische Vorteile verschaffen.
Doch im heutigen Menü sah das leider völlig anders aus. Da wurde derart krampfhaft pulverisiert, aufgeschwämmt, dehydriert, „ungewöhnlich“ kombiniert und auf Bewährtes verzichtet, dass die wichtigsten Aspekte eines genussvollen Essens konsequent auf der Strecke blieben: Wohlgeschmack und Authentizität. Die einzigen zwei Gerichte, die gut waren (das Lachs-Amuse-Bouche und der Winterkabeljau), waren die am wenigsten manipulierten.
Warum nur serviert man anstelle von Brot ein ungenießbares Gebilde aus Teig? Warum verwendet man in Desserts überwiegend herzhafte Zutaten? Und warum verwandelt man irgendwelche Zutaten zu Schwämmen, wenn all dies nicht in allererster Linie dem Wohlgeschmack dient? Eine plausible Antwort fällt mir hierzu nicht ein.
Und zu guter Letzt sollte sich auch noch mal jemand über die Semantik der Speisekarte Gedanken machen. Diese ist nämlich durch wirre Interpunktion und unzählige Rechtschreib- und Grammatikfehler äußerst schwer zu entziffern, was sehr schade ist, da man sie während des Essens häufig als Legende einsetzen muss — sonst wüsste man in großen Teilen nicht, was da vor einem auf dem Teller liegt.
Trotz dieses kulinarischen Tiefflugs haben Atmosphäre und der nette, kompetente Service unter der Leitung von Oliver Kraft den Abend jedoch insgesamt heiter und kurzweilig gestaltet. Welch teures Vergnügen.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Falco (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Peter Maria Schnurr |
Ort: | Leipzig, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 12.03.2011 |
Guide Michelin (D 2011): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens |