Torrisi – nur in New York
Es braucht nicht viel Zeit, um drauf zu stoßen, dass das Torrisi New Yorks derzeit wohl angesagtestes Restaurant ist. Es ist eine der aktuelleren Unternehmungen der Major Food Group um Rich Torrisi und Mario Carbone, die ihr einstiges Delikatessengeschäft Torrisi Italian Specialties in eine der erfolgreichsten Restaurantgruppen der USA verwandelt haben.
Stöbert man ein wenig auf der Website des Restaurants, bekommt man sehr schnell Appetit, der einem erst wieder vergeht, wenn man feststellt, dass Reservierungen hier ein Ding der Unmöglichkeit sind.
Offiziell kann man nur über den Online-Dienst Resy buchen, aber dort taucht nie ein freier Slot auf, sporadisch allenfalls eine Wartelistenoption für eine skurrile Uhrzeit (Dinner um elf, anyone?). Anfragen per E-Mail – auch sehr höfliche, die die aufwändigeren Umstände einer Reiseplanung aus Übersee schildern – werden mit Verweis auf Resy standardisiert abgearbeitet. Erst später finde ich heraus, dass sich über die neue Reservierungs-App Dorsia, die ich zufälligerweise schon installiert habe, recht mühelos Tische buchen lassen – mit Mindestumsatz pro Kopf. Ein neuer Trend in den USA.
Ich beiße in den sauren Apfel und buche einen Tisch für zwei für 300 $ pro Person um 19.15 Uhr an einem Montag. Das Geld verschwindet über die Bezahlfunktion meines Handys mit einem kurzen haptischen Feedback im Schlund von irgendwem. Da muss ich kurz schlucken.
Ob man ein solches Budget bei einem Szeneitaliener überhaupt loswird, beantworten die online einsehbaren Menüs schnell. Wer kann, bestellt zum Beispiel einen 2008er Romanée-Conti für 60 770 US-Dollar netto (ca. 56 000 € – selbst für einen Romanée-Conti ein maßloser Preis). Aber auch für sechzigtausend Dollar und ein paar Zerquetschte weniger gibt es ausreichend Möglichkeiten.
Man kann über all diese Voraussetzungen staunen (oder den Kopf schütteln), andererseits reden wir über New York. Komplizierte und vorbezahlte Reservierungen beeindrucken hier niemanden, und Leute, die sich exorbitant teure Weine leisten, auch nicht. Es interessiert hier keinen, wer wie viel wofür bezahlt, und das ist auch einer der besonders charmanten Aspekte in dieser Stadt.
Man könnte aufgrund dieser etwas budgetfokussierten Einleitung aber einen falschen Eindruck des Restaurants bekommen. Man kann ins Torrisi auch einfach am frühen Abend auf einen Walk-in spekulieren, an der Bar etwas Pasta essen und ein Peroni dazu trinken. Auf Glück wollte ich es aber bei meiner Reiseplanung nicht ankommen lassen, daher mein teurer Exkurs über Dorsia.
Tatsächlich gibt es wenige Restaurants, auf deren Einkehr ich mich so freue wie heute Abend aufs Torrisi. Wer glaubt, ich fühlte mich nur in Drei-Sterne-Restaurants wohl, irrt gewaltig.
Schon der Eingang an der Mulberry Street, am historischen Puck Building, könnte nicht einladender sein. Die imposante Backsteinfassade bietet so viel Flair, dass man sofort beginnen könnte, einen Film hier zu drehen. Vier gusseiserne Stufen, umsäumt von großen Pflanzenkübeln, führen dann zu einer bestimmt drei Meter hohen, schweren Eingangstür, die sich nur mit dem Einsatz des ganzen Körpergewichts öffnen lässt. Dahinter leuchtet schon in warmem Orange das atmosphärische Ambiente.
Die weit über die Straße rankenden Markisen wirken wie riesige Arme, die einen hineinlocken. Dass man hier gar nicht auf Laufkundschaft aus ist, wirkt etwas ironisch.
Nach einem kurzen Empfang geht es an den Tisch. Der Laden brummt. Überall illustre Gäste, von denen mich jede einzelne Lebensgeschichte interessieren würde, dazwischen schwirren Kellner in cremefarbenen Anzügen zielstrebig durch die Gänge. Der Lautstärkepegel ist hoch – im Gegensatz zum Carbone jedoch durch die Gäste und nicht die Musik.
Der Kellner legt die Karte auf den Tisch und erläutert einige Tagesgerichte. Ich bestelle erst mal einen Negroni (23 $) und lasse die Speisekarte und Atmosphäre auf mich wirken. Spektakulär die hohen Decken des ehemaligen Fabrikgebäudes, gemütlich das warme Licht aus weit über hundert Glühlampen an der Decke, rustikal die grün lackierten Stahlrohre und Stützen vor mattrotem Backstein, nostalgisch der geflieste Boden, der das grün-braun-weiße Farbschema des Restaurants stilsicher fortsetzt. So etwas muss eigentlich jeder mal erleben, der gerne Essen geht – es ist einzigartig.
Aus der Weinkarte, in der ich schon vorher intensiv gestöbert habe, bestelle ich einen 2018er Sassicaia für 650 $ – irgendwie muss ich jetzt auch mal dieses Mindestbudget aus dem Kopf bekommen. Ein charmantes technologisches Detail ist, dass bei Reservierungen über Dorsia jede bestellte Position sofort in der App auftaucht. Negroni und Wein stehen schon drauf. So hat man den Rechnungsbetrag immer im Blick und kann das Restaurant sogar verlassen, ohne auch nur irgendetwas später klären zu müssen. Nicht einmal der Satz »ich zahle über Dorsia« wird fällig sein. Man steht einfach auf und geht. Frictionless nennt man das hier – reibungslos oder: diskret und digital. Auch da kann man nur staunen. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, wenn ich an die Abrechnungszeremonien in unseren Breiten denke, an denen sich manche Gäste nach wie vor ergötzen, vom Herausposaunen des finalen Rechnungsbetrags bis zum Teilen der Rechnung und Bezahlen mit Bargeld.
Aber ich gehe noch nicht, sondern komme gerade erst an. Zum Start bestelle ich drei Kleinigkeiten, die dann nur kurz hintereinander serviert werden und irgendwann gleichzeitig auf dem Tisch stehen.
Charred clam boule (17 $) ist eine Art halber, nach dem Backen noch einmal kurz gegrillter Muffin aus luftigem Hefeteig, der mit einer in Kräutersauce marinierten Muschelvariation belegt ist. Man könnte befürchten, die Proportionen stimmten nicht, doch das ölige, unaufdringlich knoblauchbetonte und kräuterwürzige Muschel-Medley würde auch für zwei Brötchen reichen, so ausufernd aromatisch und süffig ist die Marinade. Die kleine Speise schmeckt gleichzeitig nach Muschelgerichten, Pesto und Pizza und löst einen starken Drang aus, das sofort noch ein, zwei Mal nachzubestellen. Aber ich halte mich zurück; es kommt ja noch was. (8/10)
Ebenfalls den Tisch erreichen dann die Gurken »New Yorkese« (19 $), die schon wegen ihrer asymmetrischen Form eine hervorragende Wirkung am Gaumen haben. (Ich vermute, dass die Gurke nach chinesischer Art »geschlagen« wurde.) Ganz unscheinbar sind die Stücke mit einer vinaigretteähnlichen Marinade überzogen, die die perfekt kühle Temperatur mit einer prägnanten Säure unterstreicht. Dazu gesellt sich ein Meer an Kräutern, allen voran Koriander und Dill, die sich aromatisch gegenseitig überbieten. Viel mehr kann man aus einem Gurkensalat kaum herauskitzeln. Dass man das kann, ist auch nur eine Sache. Dass man das hier will, die entscheidende andere. (8/10)
Auf demselben Niveau bewegt sich Oktopus »Nha Trang« (32 $), zart à la plancha gegrillt und mit geschmorten Schalotten, Minze und Thai-Basilikum angemacht. Wenngleich die Aromenwelt durchaus thailändisch ist, geht die Speise mühelos als Vorspeise in einem (amerikanischen) Italiener durch. Das Niveau ist schwindelerregend hoch. (8/10)
Nach wie vor ist die Atmosphäre fesselnd. Das gemütlich gedimmte Licht, das rustikal-schicke Interieur, die lebhaften Unterhaltungen, die spannende Charaktere und die hastenden Kellner … dazu der toskanische Wein und das fabelhafte Essen: ich möchte gar nicht, dass das endet.
Wenig später stehen zwei Pastagerichte auf dem Tisch. Frische (und dadurch etwas weichere) Cavatelli mit »jamaikanischem Beef-Ragout« (29 $) begeistern immens mit einer nicht zimperlichen, fruchtigen Schärfe – das passt zum karibischen Motto – und karamellartigen Röstaromen des Hackfleischs. Diverse weitere Gewürze und Aromaten aus tropischeren Breiten spielen gekonnt mit einer fein austarierten Ambivalenz von Süße und Herzhaftigkeit. (8,5/10)
Noch perfekter sind Tortellini Pomodoro (29 $), deren trivialer Name sich als kecke Tiefstapelei entpuppt. Die hausgemachte und mit Ricotta gefüllte Pasta ist heiß und etwas weicher als al dente gekocht; die Tomatensauce, auf der die Nudeln gebettet sind, ist pure Magie. Ein Aroma wie frisch ausgedrückte San-Marzano-Tomaten, gepaart mit einer buttrigen Süße und feinen Säure schmeck himmlisch und lässt einen rätseln, wie man so scheinbar einfache Zutaten in einen Genuss dieser Güte verwandeln kann. (9/10)
Natürlich kann ich jetzt noch nicht aufhören. Ich probiere noch die Ente »alla Mulberry« (56 $), ein verführerisch duftendes Stück Entenbrust, das eine so saftig-knusprige Haut aufweist wie gerade neulich erst die sensationelle Ente im Da Vittorio in Shanghai. Gerade die Kombination aus feinknuspriger Haut und köstlicher Fettschicht ist umwerfend gut; auch das Fleisch ist saftig, aromatisch und perfekt gegart. Die Sauce ist eine glänzende, dichte Rotweinreduktion mit Maulbeere (engl. Mulberry, wie die Straße dieser Adresse) und schmeckt dicht und fruchtig. In Butter sautierter Mangold passt dazu exzellent mit seinen leicht kontrastierenden Bitternoten, und eine weitere »Beilage« in Form eines Schälchens mit Austernpilzen (nicht im Bild) komplettiert den Gang. Das ist unstrittige Spitzenküche. (9/10)
Ich bestelle noch eine Pasta, weil ich mich an diesen Abend klammern möchte. Raviolini mit Garnelen und Safran (35 $) sind üppig buttrig, pikant, ich schmecke Fenchel, Kräuter und immer wieder die gute Butter. Die Pasta erinnert dabei mit ihrem dünnen, fast transparenten Teig an chinesische Wan Tans. Auch dieses Gericht ist eine Wucht. (8,5/10)
In kleinen Pappbechern servierte Sorbets mit Zitrone bzw. Ananas schmecken dann mutmaßich nach einem Sommertag auf einem steinigen Kliff an der Amalfiküste (7/10), und ein Schokolade-und-Haselnuss-Napoleon (20 $) mit knusprigem Blätterteig und Vanillesauce besiegelt dann das Essen – sehr gut und auch herzerwärmend, aber einige Stufen unterhalb des Begeisterungsniveaus der herzhaften Gerichte (7/10).
Ich bin glücklich, satt, und immer noch etwas perplex; alle Emotionen sind am Anschlag. Selten ist es mir schwerer gefallen, meine Bewertungen nur am Essen festzumachen, denn das Torrisi zählt zweifellos zu einem meiner eindrucksvollsten gastronomischen Erlebnisse. In diesem Ausmaß habe ich das nicht erwartet, aber durchaus erhofft. Immerhin hat das Restaurant alle Zutaten dafür, vor allem die eine, entscheidende: es ist in New York.