Kali – Hinterhof in Hollywood
Ein »Nachbarschaftsrestaurant«, was ist das eigentlich? Ich assoziiere damit in Deutschland eher qualitativ unterdurchschnittliche Restaurants in Wohngegenden mit südeuropäischer »Spezialitätenküche«. Der Grieche, der Italiener, der Spanier usw. Der Gast kann auf einen unkomplizierten Abend zählen, auf ein überschaubares Budget und sich irgendwann zum Stammgast hochessen, der irgendwann mit Extras aufs Haus rechnen kann. Über die Küche muss (und kann) man sich in der Regel keine größeren Gedanken machen.
Vor diesem (deutschen) Hintergrund verwundert es vielleicht, dass sich ein Sternerestaurant als »neighborhood restaurant« bezeichnet. Das Kali in Los Angeles tut genau das. In einer etwas unauffälligen Ecke des auch eigentlich gar nicht so glamourösen Stadtteils Hollywood fällt das Restaurant zunächst kaum auf. Ein Hinweisschild erklärt, dass man das Restaurant derzeit über den Parkplatz um die Ecke betritt. In dieser Hinsicht erinnert L.A. ein wenig an Tokio: Man muss selbst in der Nähe des Ziels oft genauer hinsehen, um zwischen den vielen unscheinbaren Gebäuden, die hier selten über ein Stockwerk hinausragen, sein eigentliches Ziel zu finden.
Im Kali wurde während der Pandemie ein geräumiger Außenbereich geschaffen, mit warmem Licht aus Lichterketten und ebenso warmen Heizstrahlern. Es ist unmittelbar gemütlich und einladend hier, trotz – oder gerade wegen – blau ausgelegter Teppichbahn, etwas wackeligem Untergrund und sichtbaren Bauzäunen aus Maschendraht.
Ein Glas Henriot-Champagner (25 $) tröstet prickelnd darüber hinweg, dass auf der Kreditkarte derzeit nahezu derselbe Dollar-Nennbetrag in Euro fällig ist. Apropos Getränke, die Weinkarte lässt mein Herz schnell höher schlagen, und ich möchte gerne einmal die Eckpunkte beschreiben, die mir nach nicht einmal zwei Minuten ins Auge fallen und diese Karte schon so fundamental von den meisten deutschen Weinkarten unterscheidet. Erstens, schon mit der offenen Weinauswahl wird jeder seriöse Weinfreund glücklich. Fast alle Gläser kosten dasselbe, so um die 16 $, und sie sind alle nur eine Frage der Laune und nicht der Qualität – ein immenser Unterschied. Lust auf Chablis? Kein Problem, gibt zwei gute Premier Crus. Lieber ein Sauvignon? Kein Thema. Der heißt aber natürlich nicht »Sauvignon Blanc«, sondern ist ein 2019er Vigneau-Chevreau Cuvée Silex Sec. Bei Rotwein angekommen, stellt sich auch nur die Frage, in welcher Stimmung man gerade ist. Frankreich, Italien, Spanien (z. B. La Rioja Alta Reserva) oder natürlich Kalifornien – ganz gleich, nach welchem Stil einem ist, stößt man hier auf nichts Mittelmäßiges. Zweitens, der Abschnitt für ganze Flaschen ist unterteilt in »Alltagsweine« (everyday bottles), »Sammlerweine« (collection reds/whites) und, man glaubt es kaum, Burgund. Drittens, die »Alltagsweine« kosten ungefähr zwischen fünfzig und hundert Dollar. Die BILD-Schlagzeile möchte ich einmal sehen, wenn ein deutsches Restaurant Weine in dem Preissegment als Alltagsweine betitelt. Und viertens: diese vielfältige Auswahl! Es geht bei guten Weinkarten schließlich nicht in erster Linie um einen immensen Kellerbestand. Es geht auch nicht um Jahrgangstiefe oder besonders teure Weingüter, sondern um eine gewissenhafte Auswahl sehr guter Weine, mit der man nichts falsch machen kann. Genau das erfüllt diese kompakte Liste.
Und obwohl ich hier vor Ort beabsichtige, mich auf die kalifornischen Erzeugnisse zu fokussieren, widme ich mich heute Abend doch noch mal dem Burgund. Ein 2018er Nuits-Saint-Georges »Clos des Porrets« 1er Cru von der hervorragenden Domaine Henri Gouges ist ein zu guter Fund, um nicht zuzuschlagen, und mit 185 $ deutlich fairer bepreist als eine äquivalente Flasche erst kürzlich im Epicure.
Die Speisekarte liest sich genauso kurzweilig. Schon beim Querlesen signalisieren mir Zutaten wie Pacific Gold oysters, uni, abalone, yellowtail und hen of the woods, dass man hier auch kulinarisch nicht viel falsch machen kann, um es mal mit so viel Zurückhaltung auszudrücken wie dieser Hinterhof. Das macht alles schon vor dem ersten Bissen richtig Laune.
Es gibt zwei tasting menus (zu 140 bzw. 190 $), die aus den Gerichten der Karte zusammengesetzt sind, aber meine Auswahl gestalte ich lieber selbst. Die Freude am bewussten Selbstauswählen von Gerichten mit bestimmten Zutaten lasse ich mir ungern nehmen.
Mein erster Gang heißt crowded beach, also »voller Strand«, kostet 20 $ und könnte kaum einen treffenderen Namen tragen. Eine Auster mit einer Gurkenzubereitung schmeckt angenehm nach Marina; eine Miesmuschel mit Bierschaum liefert zu einwandfreier Muschelqualität kurzweilige Bitterkeit; Szechuanpfeffer-Blätter kombinieren makellose Jakobsmuschel mit pikanter Exotik; ein Stück gegrillte Abalone mit Algen unterstreicht wieder das Meer; und ein Algen-Küchlein mit Seeigel ist dazu, sozusagen, das Crescendo der brechenden Welle. Wie sehr ich allein schon diese Seeigel-Qualitäten vermisst habe! (7/10)
Es folgt ein Gang um pazifische Gelbschwanzmakrele crudo, also roh, dazu gibt es verschiedene Zubereitungen von Gurke, Radieschen, Alge, Zitrusfrüchten und einen Buttermilchschaum. Das Gericht müsste man nicht einmal so verspielt anrichten; die exzellente Makrele wird in jedem Fall passend von den frischen Begleitern eingerahmt. Die knackigen Gurkenscheiben begleiten die Gaumenfreuden ab und zu mit einem kurzweiligen »Biss«. (7/10)
Mit dem Eintreffen der blauen Stunde und dem Aufdrehen der Heizstrahler wird es hier draußen immer gemütlicher. Der Service ist souverän und entspannt, die Buchungslage allerdings ziemlich mau.
Der nächste Gang hört auf sea urchin pasta (kleine Portion 26 $), und wie könnte ich die auch nicht bestellen? Ein vergleichbares Gericht hat mir vor zweieinhalb Jahren im Masseria in Washington, D.C., schon einmal eines der besten Gerichte überhaupt beschert. Der Vergleich hinkt aber schnell. Die hiesige Pasta ist ein bisschen zu eierlastig, was hier nicht so gut passt, und der Seeigel ist leider nur homöopatisch dosiert, also wirkungslos. Sehr gut sind dagegen das Basilikumöl, in dem die Nudeln angerichtet sind, sowie das separat servierte Rosmarin-Focaccia. Insgesamt schwächelt das etwas. (6,9/10)
Was es zum Abschluss noch sein muss, ist ein Steak aus dem eigenen »Dry aged«-Abschnitt der Speisekarte. Ich wähle ein Porterhouse des Lieferanten Flannery Beef nördlich von San Francisco (80 $). Es handelt sich dabei um ein prächtig marmoriertes, gehaltvolles und saftiges Stück vom Holstein-Rind, eine Rasse, deren Zucht-Ursprung tatsächlich Nordamerika ist, wie ich noch schnell recherchiere. Zu dem Steak, eines der besten seit meinen Txogitxu-Highlights im Baskenland, gibt es Maitake-Pilze, goldbraun geröstete Schalotten, eine würzige Kraftsauce aus dem Bilderbuch und knusprige, geschichtete Kartoffeln. Dazu der Rest des Burgunders, und die Reise kann weitergehen. (7/10)
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | Kali (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Kevin Meehan |
Ort: | Los Angeles, USA |
Datum dieses Besuchs: | 13.07.2022 |
Guide Michelin (California 2021): | * |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
Diskussion bei Facebook: | hier klicken |