Labyrinth – 729 Quadratkilometer Regionalität
Es ist schon wieder Mittag. Mit dem Taxi geht es zur Esplanade Mall, einem deprimierenden Einkaufszentrum in einem Kino- und Theaterkomplex auf der gegenüberliegenden Uferseite vom Marina Bay Sands-Resort. Für 12 Uhr steht eine Reservierung im Labyrinth in meinem Kalender.
Ich bin viel zu früh und lungere etwas verloren vor dem noch verschlossenen Lokal herum. Die Eingangssituation erinnert eher an einen Nachtclub als an ein gehobenes Restaurant. Ein komplett in Schwarz gestalteter Wartebereich mit vorgelagertem Bartresen ist jedenfalls das Erste, das einen empfängt. (Lustigerweise wird das Restaurant genau diesen Bereich in Kürze komplett umgestalten, wie ich nach meiner Reise zufällig herausfinde. Der Bartresen verschwindet, der Empfangsbereich wird heller, und das ganze Restaurant bekommt sogar eine richtige Eingangstür.)
Als jemand merkt, dass ich auf den Einlass warte, bittet man mich schon etwas früher herein. Nach kurzem Warten bei einem Glas Wasser geht es dann auch schon in den eigentlichen Speisesaal.
Die Atmosphäre ist kurzweilig. Zwar dunkel und fensterlos, aber helle Spot-Beleuchtung, eine verwinkelte Inneneinrichtung sowie Kunst und kreative Dekoration bieten überall etwas zu entdecken.
Der Küchenchef, Han Li Guang (»LG Han«), hat sich hier im Labyrinth einer regionalen Küche verschrieben. Bis zu neunzig Prozent der Zutaten stammen inzwischen aus Singapur. Das war nicht immer so; erst die Pandemie inspirierte Han zum Umdenken. Den Michelin-Stern hält das Restaurant bisher.
Mit der Regionalität anderer Orte ist der Ansatz von Han nicht vergleichbar. Singapur ist gerade mal so groß wie Hamburg und viel dichter besiedelt. Nahrungsmittelproduzenten aller Art verfügen in dem kleinen Stadtstaat meist nur über eine winzige Fläche, zudem bietet das tropisch-feuchte Klima für viele Nahrungsmittel unvorteilhafte Bedingungen.
Das Mittagsmenü kostet 138 SGD (ca. € 90), ein Signature-Gericht mit Wagyu-Striploin gibt es für ca. € 30 extra. Ich wähle auch das, weil der Gang einen interessanten persönlichen Bezug zum Küchenchef hat, den ich nicht verpassen möchte.
Auf der Weinseite starte ich bescheiden mit einem Glas 2018er Bourgogne »Les Grandes Coutures« von der Domaine Xavier Monnot (ca. € 18).
Mit drei Einstimmungen starte ich ins Menü. Ein dreifach gekochtes und 48 Stunden in Sojasauce mariniertes Wachtelei mit injiziertem Oolong-Tee macht mit einem noch flüssigen Eigelb und den Geschmacksqualitäten bitter und umami sowie mit einer dezenten Kühle eine sehr gute erste Figur (7/10). Eine Grünschalmuschel duftet nach Fischpaste und Laksa-Sauce und schmeckt auch so: jodig, würzig, nach Meer (7/10); und ein frittiertes Fladenbrot im indischen Pratas-Stil, gefüllt mit wachsweichem Eigelb und schwarzem Trüffel, ist zusammen mit einer Lardo-Curry-Creme, in die man es tunkt, eine unanständige, fettig-herzhafte und äußert zufriedenstellende kleine Mahlzeit (7/10).
Der erste Gang des Menüs ist ein Sashimi von Barramundi, das wie eine Rose angerichtet und mit Ulam-Rajah-Blüten kombiniert ist. Letztere stammen von einer Pflanze, die in südlicheren Breiten beheimatet ist. Sie weisen ein interessant fruchtiges Aroma auf, das dem einer jungen, unreifen Mango nicht unähnlich ist. Etwas eingelegter Rettich sorgt zusammen mit hauchdünnen Erdbeerscheiben für weitere Komplexität in diesem Spiel um Säure, Frische und Frucht; zuletzt rundet noch ein regionaler Honig die Komposition mit einer dezenten Süße ab. Leider entdecke ich den erst etwas später, sodass ich das komplette aromatische Spektrum erst ganz zum Schluss erwische. Sehr fein. (7/10)
Mit dem nächsten Gericht nimmt Küchenchef Han Bezug auf das Regionalgericht Bak Chor Mee, das in dieser Version anstelle von Nudeln und Schweinefleisch panierte Jakobsmuschel und Tintenfisch in den Mittelpunkt stellt (der Titel der Gerichts ist »Bak Chor Mee No Bak Chor Mee«). Die in diesem Fall aus Hokkaido stammende Jakobsmuschel ist wegen der hohen Produktqualität eine begrüßenswerte Abweichung des Regionalitätskonzepts. Zusammen mit einer Art XO-Sauce, Sojasauce sowie Schnittlauch erkennt man die typischen Merkmale des Gerichts wieder, das ich erst Tage zuvor etwas rustikaler an einem Hawkerstand probiert habe (Bericht folgt). Sogar die gelb gefärbten Tintenfischstreifen sind von der Textur her sehr nah dran an Nudeln. Das Gericht ist ein gutes Beispiel für die Optimierung von Alltagsküche auf ein höheres Niveau. (7/10)
Das erheiternde Menü fährt fort mit gedämpftem Zackenbarsch (Garoupa). Der saftige, durch optimale Reifung schillernde Fisch ist mit der skurrilen Zutat Fat choy ummantelt, einem besonders in der chinesischen Küche gängigen Bakterium (Nostoc), das haarartige Fäden erzeugt und wie ein Gemüse eingesetzt wird. Hier ist es so verarbeitet, dass eine leicht knusprige Hülle um den Fisch herum entsteht. Das Ganze ist in einem würzigen, süffig-pikanten Fischsud angerichtet, der mit Rum abgeschmeckt wurde und in dem aus Fisch hergestellte Nudeln und Algen zu finden sind. Eine leichte Schärfe durch Chilifäden kontrastiert gekonnt die feine Süße, die das Gericht durch den Rum erhält. Ungewöhnlich und äußerst gut. (7,5/10)
Der folgende Gang ist dann das kostenpflichtige Extra und eine Hommage an Hans Großvater, der in den 1960er-Jahren das damals bekannte Cairnhill Steakhouse in Singapur führte. Es war hier das erste Restaurant, das brutzelnd heißes Fleisch in bester Steakhouse-Manier auf ebenso heißen Tellern servierte. Für Hans Gericht wird der Platz kurzerhand wie im Steakhouse eingedeckt, die alte Speisekarte gibt es (in dekorativer Funktion) auch noch dazu. In meinem Glas ist dazu jetzt ein 2019er Kalleske »Moppa« Shiraz aus Australien (ca. € 18) – einfach, aber mit der Kraft, die man jetzt gut zu dem Steak vertragen kann.
Es gibt ein Striploin vom Wagyu mit Marmorierungsgrad A4 aus der japanischen Präfektur Tochigi. Das Steak auf einem Gusseisenteller angerichtet, der so heiß ist, dass die »Hainan«-Rotweinsauce, die separat angegossen wird, sofort darauf zu kochen beginnt. Alles duftet nach Fleisch, den frittierten Zwiebelringen und der spritzenden Sauce; meine Serviette schützt mich vor den Folgen des kulinarischen Vergnügens, das mit dem Gericht einhergeht. Buttriges, exzellentes Fleisch, herzhaftes Gemüse und scharfe Gewürze in der Sauce sorgen für einen heißen Kopf. Ein großer Spaß zu einem fairen Aufpreis. (7/10)
Das nächste Gericht ist eine Version von Hainan Chicken Rice, eines von Singapurs bekanntesten Gerichten, das üblicherweise mit pochiertem Huhn, Reis, Gurke und Chilisauce serviert wird. Han serviert das Gericht auf drei Tellern. Ein dünner Streifen der Hühnerbrust mit regionalen Pilzsorten, Lauch und einer Art Huhn-Trüffel-Velouté präsentiert auf dem einen Teller ein saftiges und aromatisches Huhn, es ist aber allenfalls lauwarm. Die Gemüse dazu sind schlicht, der Trüffel von erkennbar schwacher Qualität – das überzeugt für sich allein nicht ganz. Der dazu servierte Nanatsuboshi-Bratreis ist jedoch wunderbar, leicht knusprig, herzhaft gewürzt (Furikake) und leicht nach Alge schmeckend; eine heiße Hühnersuppe mit Pilzen ist pures Umami. Leider überzeugte der Hauptdarsteller nicht ganz, aber sehr gut ist das in Summe dennoch. (7/10)
Ein erfrischendes Pré-Dessert basiert auf mehreren Pflanzen, die in Singapur häufig wachsen. Es gibt Kakigōri (Schabeis) aus Purpurblättriger Dreimasterblume (oyster plant), darauf ein Eis aus mit Sauerklee und Honig mazerierter Aloe Vera. Die sonderbare Komposition ist recht bitter, dazu sehr kalt und geschmacklich nicht allzu aufregend. (6,9/10)
Besser ist eine Komposition um Pistazieneis mit knusprigem, keksartigem Gebäck, einem aromatisch dichten, fruchtigen Coulis aus Zitronenthymian und Blaubeere. Einige Blüten setzen teils nussige, teils florale Akzente. Fast etwas »nordisch«. (7/10)
Den Abschluss macht dann eine kulinarische Referenz zu Kaya Toast, eine singapurische Frühstücksspezialität, die hier allerdings nicht mit Toast, sondern mit einer Meringue aus Teh-Tarik (Milchtee) hergestellt wurde. Hausgemachte Kokosmarmelade und eine Scheibe Beurre Bordier sorgen für die typische Üppigkeit des Snacks. Eine kleine Nocke Kaviar kontrastiert die Süße, die sich deutlich feiner präsentiert als beim Original. (7/10)
Hans Philosophie, mit größtenteils regionalen Zutaten ebenso regionale Spezialitäten zu würdigen, war nicht nur lehrreich und nachhaltig, sondern vor allem eine kurzweilige und wohlschmeckende kulinarische Abwechslung. Aber keine Sorge wegen des Namens: Weder die Küche noch die Gäste verlaufen sich in diesem Labyrinth. Man gelangt ganz einfach wieder hinaus. Es dauert nur eine Weile.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Labyrinth (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Han Li Guang |
Ort: | Singapur |
Datum dieses Besuchs: | 12.11.2021 |
Guide Michelin (SG 2021): | * |
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