Le Pristine ‒ New-York-Trostpflaster
Die nicht einmal 48 Stunden in Antwerpen hatte ich primär den drei Sternen des Restaurants Zilte gewidmet. Etwas spät kam mir in den Sinn, mich um weitere Reservierungen zu kümmern, ein Fauxpas nach monatelangem Aus-der-Übung-Sein und einer ohnehin unsicheren Reiselage. Dass ich aufmerksamer hätte sein sollen, merkte ich beim beiläufigen Stöbern im Guide Michelin für Antwerpen. Ich stolperte dort über das Le Pristine, ausgezeichnet mit einem Stern und eines der aktuellen Restaurantprojekte von Gastro-Rockstar Sergio Herman.
Einen flüchtigen Blick auf die Website später ahne ich schon, was einen in dem Restaurant erwartet. Man kann das nur erahnen, wenn man Vergleichbares kennt, vergleichbare Speisekarten mit Produkten, die Bände sprechen; vergleichbares Interieur mit Materialien und Farben; vergleichbare Reservierungsumstände ‒ begehrt, verbindlich, digital. So etwas kennt man nämlich sonst nur aus New York, San Francisco, Los Angeles. Allein die Materialkombination aus Backstein, Sichtbeton und schwarzen Fensterrahmen löst bei mir ungeduldige Vorfreude aus.
Das Restaurant ist für den einzigen Zeitpunkt, der bei mir passt, ausgebucht, schon Wochen vorher, für einen Samstagmittag. Aber ich trage mich für die Warteliste ein und habe Glück.
Als ich das Restaurant dann betrete, werde ich Teil einer Welt, die bei uns in Deutschland nie existieren wird. Das ist nicht lamentierend gemeint, sondern eine nüchterne Feststellung. Es ist etwas ganz Grundsätzliches, das bei uns fehlt, nämlich die nahezu völlige Abwesenheit von Essern im Alter zwischen, ganz grob, 30 und 60, die an einem Samstagmittag zusammen mit Freunden ein stylishes, hochwertiges Restaurant besuchen, um dort zu Champagner und Chablis ein paar lässige Austern mit Negroni-Granité, Basilikum und Limone zu genießen. Oder Pizzette mit Königskrabbe und XO-Sauce. Oder gleich das ganze Meeresfrüchte-Plateau. Samstags geht man bei uns eben irgendetwas einkaufen. Man geht raus. Auf den Markt vielleicht. Oder in den Bioladen. Oder zu Edeka. Aber man kehrt keinesfalls ein, schon gar nicht in ein dunkles, klimatisiertes Restaurant.
Dabei könnte es kaum schöner sein als sich in eine solche Welt entführen zu lassen, und für mich hätte sich die Fahrt nach Antwerpen schon allein deshalb gelohnt. Die Welt vom Le Pristine besteht im vorderen Teil aus einer Art Café und Bar, für den man nicht reservieren kann, sowie im hinteren Teil aus einer Mischung aus Neo-Bistro und fine dining. Eindrucksvolle architektonische Details verbinden diese Bereiche fließend. Eine lange, offene Küche ‒ mit massiven Herden, offener Feuerstelle und unzähligen jungen Köchinnen und Köchen ‒ sowie großformatige Kunst laden zum weiteren Staunen ein.
Die erste Karte, die einem gereicht wird, widmet sich den flüssigen »Aperitivi« und den festen »Amuse Bouches«. Ein Glas Champagner (»Cuvée Sergio Herman« vom Erzeuger Piollot, € 16, auffällig angenehm) renkt dann auch meine vor lauter Staunen nach unten gefallene Kinnlade wieder ein. Dass man den Schaumwein in einer altmodischen Schale serviert, ist hier kein Grund zur Beschwerde, sondern ein charmantes Augenzwinkern in Richtung Boheme, Ungezwungenheit, Lebensfreude.
Die schon eingangs erwähnten Austern (Paar € 17,50) sind in der Schale vorportioniert, dass man leicht einzelne Stücke entnehmen kann. Kombiniert sind sie mit einem Negroni-Granité, also dem erfrischend bitteren italienischen Aperitif, dazu gibt es Cremes aus Basilikum und Zitrusfrüchten. Ein Hauch von einer Süße, die vermutlich von den Cremes herrührt, wirkt hier zwar wie ein kleiner Trick, um dem Gaumen zu schmeicheln, aber das lasse ich gern mit mir anstellen. Dazu der Champagner, lässige Musik und smartes Personal ‒ und man kann nur gute Laune bekommen. (7,5/10)
Aperitif-Snack Nummer zwei ist ein mit Gurke und Jalapeno kombiniertes Potpourri aus Hummer- und Wolfsbarsch-Tartar (€ 39). Eine von der Chilischote angetriebene Gurkenfrische kämpft sich dazu erfolgreich durch eine aufgesprühte Creme von Stracciatella-Käse und eine Nocke Kaviar, die man sich hier schnell als upsell einbrockt, wenn man nichts Gegenteiliges sagt (zzgl. € 25). Das zeugt sowohl von kaufmännischer als auch kulinarischer Raffinesse. Hervorragende Produkte und ein frisches, vollmundiges Geschmacksbild machen diesen Snack zu einem weiteren Highlight auf sehr hohem Niveau. (7,5/10)
Ich kann mich von den Amuses gar nicht lösen, inzwischen ist auch ein angenehmer offener Weißwein im Glas. Ganz unkompliziert lässt mich der Sommelier verschiedene Weine probieren, die Flaschen bleiben dabei einfach auf dem Tisch. Weiter geht’s noch mit Pizzette, kleine Pizzaschiffchen mit Königskrabbe, XO-Sauce und Strandflieder. Allein diese köstlichen Zutaten, lässig auf einer Pizza serviert! (7/10)
So könnte ich eigentlich den Rest des Tages weitermachen. Aber es gibt noch eine zweite Karte, die einem gereicht wird, mit jeweils vier bis fünf Vorspeisen, Zwischen- und Hauptgängen. Eine Entscheidung fällt schwer.
Ich probiere zuerst ein Vitello Tonnato (€ 35), bei dem gebeiztes Kalbfleischtatar zylindrisch auf einem Kräuteröl angerichtet ist. Darauf findet man eine große rote Garnele sowie ein Kräuter- und Salatsträußchen. Erneut fallen sofort die exzellenten Produkte auf, die hier im Akkord ‒ und fehlerfrei zubereitet ‒ die Küche verlassen. Man könnte an diesem Gericht vielleicht eine Art »Massigkeit« monieren ‒ eine halb so hohe Fleischportion wäre auch beim selben Preis ausreichend ‒, dennoch ist diese Interpretation des italienischen Vorspeiseklassikers mehr als zufriedenstellend. (7/10)
Weiter geht’s mit Pasta. Die unmissverständlich italienisch angehauchte Speisekarte bietet z. B. Conchiglioni mit Hummer, Tintenfisch, Guanciale und Kaviar (€ 41) mit intensiver Tomatensauce, edlem Salzkick vom Kaviar und perfekt al dente gekochten Nudeln, alles sehr süffig (7/10); oder Garganelli mit Entenconfit, pikanter ’Nduja-Wurst, Pilzen, wildem Knoblauch (€ 33) und einem Eigelb, um alles noch süffiger zu machen (7/10).
In Anbetracht des noch folgenden Abendessens im The Jane verzichte ich auf ein Dessert, doch auch die klingen vielversprechend. Zu gutem Espresso gibt es ohnehin noch völlig ausreichende Petits Fours, die meine Vermutung einer sehr guten Patisserie bestätigen.
Die Playlist, die Architektur, der Service, die Gäste, die Küche ‒ alles vermengt sich hier zu einem einzigartigen Wohlfühlort mit internationalem Flair, den ich allen ans Herz legen möchte, die New York gerade so vermissen wie ich. Am besten kehrt man samstagmittags ein. Da hat man doch ohnehin nichts Besseres vor, oder?
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Pristine (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Chris Blom |
Ort: | Antwerpen, Belgien |
Datum dieses Besuchs: | 19.06.2021 |
Guide Michelin (B & LU 2021): | * |
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