Roadtrip, Stopp 5: Waldhotel Sonnora, Dreis
Auf mein heutiges Etappenziel freue ich mich enorm. Nicht nur, weil ich im Restaurant des Waldhotels Sonnora vor Jahren das grandioseste Essen auf deutschem Boden genoss. Sondern auch, weil dieses Hotel, trotz seiner Kuriositäten, seiner „Gestrigkeit“ und seinem Kitsch, so viel mehr ist als das.
Es ist nämlich vor allem eines: authentisch. Im Deutschland der Achtzigerjahre, als hier vermutlich noch Mercedes 560 SEC und Ferrari Testarossa vor dem Haus parkten und man sein Essen mit Tausendmarkscheinen bezahlt hat („Rest stimmt so“), war das alles ein luxuriöser Traum. Goldene Wasserhähne in Schwanenoptik. Duschkabine mit Wasserdüsen. Römische Büsten im Bad. Überall Säulen, Spiegel, Marmor, Kirschholz, Messing und roter Teppich. Der Fernseher auf dem Zimmer ist von Telefunken, neben dem Bett steht eine von unten beleuchtete Glaskugel in einer Messingfassung auf einem verspiegelten Sockel. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Hinter all diesen kaum fassbaren Anachronismen fällt aber eines sofort auf: es fehlt einem hier an nichts. Weder an Gastfreundschaft noch an Ausstattung noch an Qualität. Das Obst auf dem Zimmer zur Begrüßung ist bereits der Knaller. Makellose, süße Kirschen, bilderbuchartige Himbeeren, saftige Aprikosen. Dazu diverse Wassersorten, still, medium und sprudelnd, man kann schließlich nie wissen. Nespresso-Maschine? Wer will die noch, wenn man an der Rezeption zwischen Hawaii Kona Champion, Jamaica Blue Mountain, Panama Geisha und Wild Kopi Luwak wählen kann?
Abends im Restaurant, direkt am gekippten Fenster, kann ich es vor Spannung kaum abwarten. Clemens Rambichler hat hier vor wenigen Jahren das Zepter seines viel zu früh verstorbenen Mentors Helmut Thieltges geerbt. Die drei Sterne hat der junge Küchenchef seitdem souverän verteidigt.
Zunächst gibt jedoch eine penetrante Parfümwolke vom (deutlich mehr als zwei Meter) entfernten Nachbartisch dem derzeit allgegenwärtigen Thema Aerosole eine ganz neue Bedeutung und verhindert, dass ich mit der nötigen Entspannung und sensorischer Aufnahmefähigkeit in den Abend starten kann. Die Situation ist derart unhaltbar, dass ich unter allen Umständen den Tisch wechseln muss. Das smarte Personal zeigt diskret Verständnis für die Situation.
Der neue Tisch ist perfekt. Etwas weiter Abseits des Geschehens, dafür ohne Fremdeinflüsse. Es kann endlich losgehen. Weinweise starte ich mit einem offenen 2015er Saint-Aubin 1er Cru „Les Pitangerets“ von der Domaine François Carillon (€ 15). Während ich den perfekt temperierten Burgunder genieße, fällt auch meine Wahl bezüglich der Speisen. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, à la carte zu wählen, entscheide ich mich letztlich für das Menü (€ 230). Es enthält alles, was mein Herz heute begehrt ‒ und mehr.
Als Einstimmung gibt es eine Strauchtomatenmousse mit Gazpacho, Sauerrahm, Gurken und Crevetten. Ein sonniger, intensiver Tomatengeschmack kontrastiert die kühle Frische der Komposition, alle Aromen haben ihren Raum, es ergibt sich ein eindringlich mediterranes Geschmacksbild. Das ist frappierend großartig. Der scheinbare Kontrast dieser einfachen Speise zu ihrer tatsächlichen Größe und ihrem Wohlgeschmack darf einem schon jetzt die Sprache verschlagen. (9/10)
Eine aufwändige und gleichzeitig üppige Trilogie weiterer Amuse-bouches erreicht weniger später den Tisch. Es gibt eine Gillardeau-Auster ‒ ausgelöst und in ihrer Schale in mundgerechte Stücke zerkleinert ‒ mit „Imperial Gold“-Kaviar, Dill und Gurke. Der geschmackliche Dreiklang ist klassisch, begegnete mir aber noch nie so präzise und wohlschmeckend wie hier. Erneut wird eine kühle Temperatur so eingesetzt, dass die geschmackliche Frische und Qualität der Auster unmissverständlich betont wird. Doch so viel Mühe muss man sich eigentlich gar nicht machen, irgendetwas hervorzuheben. Diese Auster-Gurke-Dill-Kreation ist eine Klasse für sich. (10/10)
Label Rouge-Lachs begeistert im Anschluss nicht nur mit seiner fabelhaften Produktqualität ‒ bissfest, aber mit angenehmem Schmelz ‒, sondern auch durch ein äußerst stimmiges Zusammenspiel der säurebetonten Mitspieler wie Limone, Ingwer, Radieschen und einem Wasabi-Eis. Die angedeutete Schärfe vom Eis kontrastiert den üppigen Fisch spannungsvoll und doch harmonisch, alles ist am Gaumen im Einklang. (9/10)
Und nach all der Kühle und Frische kommt ein Wachtelei, irgendwo versteckt unter einer duftenden, mild-herzhaften Sauce, diese wiederum versteckt unter einem Berg von akkurat zu Streichholzgröße gehackten Trüffelstiften, die mir mit ihrem Duft ohnehin schon die ganze Zeit den Kopf verdrehen. Das süffige Gericht ist ein einziger Traum, cremig, perfekt gewürzt und charmant mit einer leichten Süße spielend, die für den australischen Trüffel typisch ist. Zum Niederknien. (10/10)
Ins Menü eingeschoben wird dann überraschend noch die kleine Torte vom Rindertartar (aus dem Filet), der Klassiker aus dem Sonnora schlechthin. Das präzise gewürzte Fleisch sitzt auf einem Sockel in Form einer Kartoffel-Rösti. Schon diese ist in sich perfekt, kompakt und leicht knusprig; leichte Röstnoten passen zum Tartar wie ein Steak zu Frites. Als „Pufferzone“ darauf dient eine mit Zwiebel verfeinerte Crème fraîche, darauf dann eine zentimeterdicke Schicht „Imperial Gold“-Kaviar, der in Verbindung mit der Creme für nussigen Geschmack, Salz und ein luxuriöses Texturgefühl am Gaumen sorgt. Das Gefühl ist vergleichbar mit dem Berühren eines kostbaren Leders oder Stoffs ‒ man weiß sofort, warum das so hochwertig ist. Abgesehen von einem in sich abgeschlossenen, perfekt herzhaften Geschmack, der viele Endorphine ausstößt, ist auch das Spiel mit den unterschiedlichen Temperaturen und Texturen (von unten knusprig und warm bis nach oben kühl und cremig) äußerst raffiniert. Zeitlos grandios. (10/10)
Ich bin jetzt erst ganz oben in der Speisekarte angelangt. Der erste offizielle Gang ist eine handwerklich verblüffende Terrine von der Gänseleber, die abwechselnd mit Périgord-Trüffeln und Portweingelee geschichtet ist. Die Tranche der Terrine ist mit kleinen Tupfen von Bari-Feigen-Püree und getrüffelter Pinienkern-Vinaigrette umzingelt, die mit Ochsenschwanzessenz geliert wurde.
Da muss man auch mal einen Absatz machen. Eine mit Ochsenschwanz gelierte Vinaigrette mit Trüffeln und Pinienkernen!
Die Sauce ist nicht nur für sich schon grandios, mit ihrem süffigen Süße-Säure-Spiel, dem ätherischen Trüffel und den waldigen Pinienkernen (und deklassiert damit so gut wie alle „Tupfen“, die die Teller vieler deutschen Spitzenrestaurants zieren). Geschmacklich positioniert sie sich zwischen die unwirklich famose Gänseleber mit ihrer milden Süße und die fruchtige Feige und verdreht einem dabei immer wieder den Kopf. Das geht vom Mund direkt ins Herz. (10/10)
Kaisergranat (langoustines royales) aus Loctudy in der Bretagne serviert man im Anschluss gleich in zwei Gängen. Die hier verarbeiteten Krustentiere, die Helmut Thieltges damals aufgrund ihrer bemerkenswerten Größe auch mal „Bananen“ nannte, findet man weltweit in vergleichbarer Qualität selbst in Spitzenrestaurants selten. Der erste Teil der Darbietung präsentiert das ausgelöste Tier, makellos gegart und mit süßlich-nussigem Geschmack, in einem Arrangement mit Kopfsalat, Avocado und einer mit gereifter Sojasauce zubereiteten, dadurch auch etwas angedickten, Vinaigrette. Die Hervorhebung dieser scheinbar schlichten Mitspieler sind auch ein Hinweis auf das Understatement, mit dem die Küche auch unter Rambichler arbeitet. Doch gerade Kopfsalat und Vinaigrette sind in diesem Gang virtuos. Die knackig frischen, hellen Salatblätter sind das Ergebnis einer rigorosen Auslese; und auch diese Vinaigrette bringt wieder diesen für die Küche des Sonnora fast schon typischen Idealgeschmack mit Säure und Süße zum Vorschein, der durch die gereifte Sojasauce noch mehr Tiefe und Umamigeschmack erhält. Salz bekommt das Gericht unter anderem durch eine nicht unwesentliche Menge an Kaviar, der hier schlicht als Würzmittel zum Einsatz kommt. Zum Kaisergranat passt das alles vorzüglich, seine Größe und Qualität scheinen bis zur letzten Gabel durch. (10/10)
Der Zweite Krustentier-Akt ist klassischer. Nun zelebriert man das Tier sehr natürlich, mit Juliennes von jungen Möhrchen und hauchdünnen Blumenkohlröschen, dazu gibt es eine mit indischem Curry aromatisierte Champagner-Nage. Dieses für sich bereits nach allen Registern der Kochkunst perfekte Gericht wäre für das Sonnora aber viel zu brav. In einer Tasse daneben gibt es daher im Wesentlichen noch mal dasselbe, nämlich einen ganzen weiteren Kaisergranat, diesmal in mundgerechte Stücke zerkleinert und in derselben famosen Sauce, leicht schaumig und mit intensivem Krustentiergeschmack. Während der Kaisergranat auf dem Hauptteller die meisten Gäste zu bedächtigem Anschneiden mit Messer und Gabel animieren dürfte, macht spätestens das Tässchen klar, dass man hier bitte dem Schlemmen verfallen möge. Das Auslöffeln ermöglicht hier, trotz der gleichen Zutaten, ein noch intensiveres Erlebnis am Gaumen. Und wer, wie ich, von alledem nicht genug bekommen kann, für den steht noch ein weiteres Kännchen mit noch mehr Sauce bereit, die mit sehr differenziert herausgearbeiteten Aromen von Kurkuma und Zitronengras begeistert. Es ist der Himmel. (10/10)
Der nächste Gang ist ein Sauté von Kalbsbries. Zu diesem muss man sich durch eine Melange von Pfifferlingen und großen Tranchen australischen Wintertrüffels durcharbeiten. Bei der alles andere als mühsamen Tätigkeit stehen einem eine schaumige Sauce mit Vin Jaune, eine klassische Demi-glace und, auf dem Grund des Tellers, ein Petersilien-Jus zur Seite. Der bringt, zusammen mit wunderbarem jungem Lauch, eine auflockernde Kräuterfrische in das luxuriöse Ensemble aus zartem, heißem Bries und ätherischem Trüffel. Selbst von den Pfifferlingen, denen man begegnet, begeistert geschmacklich jedes einzelne Exemplar. Wohlgeschmack am Anschlag. (10/10)
Inzwischen hadere ich bereits etwas mit der Menge, doch es muss weitergehen. Ein Mittelstück vom Steinbutt aus der Vendée kommt für den nächsten Gang abermals in Referenzqualität auf den Teller und ist umgeben von einem ganzen Kräutergarten. Eine leicht aufgeschäumte Kräutervelouté umgibt den zarten, saftigen und heißen Fisch; diverse Kräuter, vor allem Estragon, Basilikum und Kerbel, duften wundervoll und hüllen den Fisch in die einzige Parfümwolke, die ich bei einem Essen willkommen heiße. Perfektion, die nur eine subjektive Nuance von der emotionalen Ergriffenheit entfernt ist, die sich hinter meinen zehn Punkten verbergen. Dies nur als Erklärung in einer Abfolge von Speisen, bei denen es ganz und gar nicht um Punkte geht, sondern um hemmungslosen Genuss und wachrüttelnde Qualitäten. (9/10)
Im Glas versiegt inzwischen der Rest eines exzellenten 2008er Pinot Noir „Brauneberger Klostengarten***“ vom Weingut Markus Molitor von der Mosel (€ 198). Die Sommelière, Rambichlers sympathische Ehefrau, steht aber schon mit einem 1999er Chambertin Clos de Bèze von der Domaine Pierre Damoy per Coravin zur Stelle (Glas € 35).
Das ist die passende Begleitung zum Hauptgang, Karree vom Salzwiesenlamm aus dem Limousin. Das wurde in Thymian rosa gebraten und zeigt sich mit einer verführerisch integrierten Fettschicht. Die Ausnahmezutat schließt mühelos an Referenzqualitäten an, wie ich sie bspw. bei Troisgros erlebt habe. Doch nicht nur das. Jede einzelne, weitere Zutat auf dem Teller ist so grandios, dass man glaubt, alles bisher wäre ein Vorspiel gewesen. Ein Jus mit Taggiasca-Oliven sowie eine Reduktion aus San-Marzano-Tomaten, beide auch zum Nachnehmen, stellen das Gericht auf eine leichtfüßige, mediterrane Basis. Jedes Kraut, jedes Böhnchen, jede Pomme Soufflée, die man findet, lassen mich tiefer in den Genuss eintauchen. Eine weitere Sauce, die leicht pikant ist und nach Paprika schmeckt, rüttelt immer wieder wach. (10/10)
Ein karibisches Dessert rafft mich letztlich emotional dahin. Eine Freudenträne begleitet ein exotisches Topfen-Soufflé mit kreolischem Gewürzsud, Mango, Kokos und Ananas. In einer blütenweißen Kokosnuss serviert man dazu noch luftig-kühle Zubereitungen mit Kokos, Limone und Minze, etwas Pfeffer entdeckt man noch irgendwo entfernt am Horizont. Aufwühlend. (10/10)
Auch die Petit-Fours sind eine Sensation. Zu Opéra-Schnitte, Tartelette mit Walderdbeeren, kleinen Zitronentartes sowie Fruchtgelee und weiteren Schokoladenpralinen gibt es noch eine kühle Zubereitung zum Auslöffeln mit Zuckermelone, bei der man die ganzen Aromen eines heißen Sommers in Südfrankreich am Gaumen hat. (10/10)
Ich war selten so satt und so glücklich nach einem Essen. Clemens Rambichler führt meisterhaft und respektvoll das kulinarische Erbe seines Mentors weiter. Die Küche im Sonnora ist eine Bastion der Klassik, ohne einen Hauch von Staub, dafür mit unvergleichlichen Qualitäten und Genussmomenten.
Als ich Stunden später wieder zu Bewusstsein komme, habe ich noch mein Handy in der Hand und kurz vergessen, wo ich eigentlich bin. An eines erinnere ich mich aber. Zum Frühstück macht mir Herr Rambichler gleich ein Omelette. Ich kann es kaum erwarten.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Waldhotel Sonnora (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Clemens Rambichler |
Ort: | Dreis, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 16.07.2020 |
Guide Michelin (D 2020): | *** |
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