Lú, Cocina y Alma ‒ beseelte Küche
Kiloweise Butter. Auguste Escoffiers Kochbuch „Ma Cuisine“. Kaisergranate, Seeigel, eine lackierte Wachtel. Eier, Artischocken, Gemüse für Fonds und Saucen. Ich klicke etwas baff auf der Website des Restaurants Lú, Cocina y Alma herum, die mit ihrem modernen Design das traditionelle französische Kochhandwerk, das auf ihr abgebildet ist, überraschend kontrastiert.
In Spanien gibt man eigentlich nicht so sehr mit dem Beherrschen von französischer Küche an. Man ist hier auf Eigenes stolz. Natürlich zu Recht, aber wenn mir persönlich irgendwo etwas Escoffier auf dem Teller gefehlt hat, dann nicht selten in Spanien.
Ich habe das Restaurant beim Stöbern im Guide Michelin entdeckt, als ich vor wenigen Wochen nach weiteren anspruchsvollen Essensmöglichkeiten im und um den Ort Jerez de la Frontera gesucht habe. Ich bin über ein Wochenende hier in Andalusien, primär um morgen Abend das Drei-Sterne-Restaurant Aponiente zu besuchen. Aber man hat ja erfreulicherweise jeden Tag Appetit, ein für meine Genusspassion vorteilhaftes Phänomen.
Das kurz Lú genannte Restaurant ist eines der wenigen weiteren in der Umgebung, deren Küche besternt ist, in diesem Fall mit einem. Eine dunkle Tür an einem flachen Gebäude mit heller, weiß verputzter Fassade, markiert den Eingang zum Restaurant. Durch ihn betrete ich am Abend ein ganz eigenes Universum.
Wände mit pastellfarbenen geometrischen Figuren, eine mit Pappröllchen ausgekleidete Zimmerdecke, dazu elegant eingedeckte, runde Tische mit gemütlichen Stühlen umrahmen das zentrale Element des recht kleinen Speisesaals: ein massiver Küchenblock aus Edelstahl und Marmor. Daran arbeiten an beiden Seiten Köche an ihren jeweiligen Posten. Man ist als Gast nah am Geschehen.
Die Abwesenheit von Fenstern und eines entsprechenden Ausblicks holt einen sofort in eine andere Welt. Ein Glas Sherry (Sánchez Romate Fino Perdido) aus dem Ort bietet viel Genuss für kleines Geld (€ 5,50), das Stöbern in der Speisekarte macht dabei gleich doppelt Spaß.
Es werden drei Menüs angeboten (€ 70‒€ 130), meine Wahl fällt auf die dritte Option. Sie trägt die Überschrift „Vive la France“. Allez-y!
Der Auftakt ist eine Variation von Muscheln, die auf einer Schale mit Eis serviert werden. Es gibt eine Stabmuschel mit einer Sauce grenobloise und Kapern ‒ kühl, frisch, gehaltvoll ‒, eine Herzmuschel mit erfrischender Sauce mignonette und einem Geschmack nach kräftiger Meeresbrise, sowie eine Venusmuschel mit Jalapeno-Schaum, der durch die kecke Schärfe sogar richtig Freude bereitet. Mit hervorragenden Produkten und einem Bekenntnis zu klassischem französischem Saucenhandwerk zu glänzen, ist in Summe schon mal eine gute Idee. (8/10)
Drei weitere Amuse-bouches folgen. Geräuchertes Limoges-Rind auf einem Teigkissen mit mildem Senf schmeckt herzhaft wie ein ganzer Sonntagsbraten; eine mit unterschiedlichen Rindfleischzubereitungen gefüllte Brioche bietet ein ähnliches Erlebnis, und eine Interpretation eines Pâté en croûte reiht sich ein in die köstliche Darbietung der „Teig mit Rind“-Kreationen. Das gewissenhafte Handwerk, auf dem sie alle fußen, ist unverkennbar und deutlich präziser umgesetzt als ich es in einem Restaurant mit (nur) einem Stern erwarten würde. (7,5/10)
Der erste Gang des Menüs ist ein gedämpftes Brötchen mit einer Scheibe rohen Thunfischs aus der Region. Der Clou an dem Gericht ist eine Füllung des Brötchens mit einer süffigen, cremigen Kimchi-Mayonnaise, die geschmacklich an Senf und Sauerkraut erinnert. Die Mayonnaise ist mittlerweile schon mindestens die dritte klassische Sauce, die in die Gerichte Einzug hält ‒ wenn auch hier mit „Twist“. Das schmeckt so gut, dass ich mich daran sattessen könnte. (7,5/10)
Mayonnaise ist auch Thema beim nächsten Gericht. Unter einer schaumigen Austernmayonnaise mit pikantem Gewürz verstecken sich leuchtend grüne Stücke von knackigem, nur kurz blanchiertem grünen Spargel. Das massig erscheinende Gericht wirkt durch die kühle Temperatur und die präzise justierte Schärfe viel leichter und „frisch“ am Gaumen. Absolut hervorragend. (8/10)
Es folgt eine Royale vom Skorpionsfisch. Der üppige, weil sahnige, Eierstich erinnert geschmacklich entfernt an Hechtkloß ‒ während winzige, aber geschmacksintensive Portionen von Seeigel, Kaviar und einer Senfcreme kräftige Akzente setzen. Die Üppigkeit, die den Gerichten hier innewohnt, ist man heutzutage gar nicht mehr gewohnt. Sie zeigt deutlich in Richtung der alten französischen Meister, ohne dabei jedoch altmodisch zu sein. Durch die deutlichen Assoziationen zum Meer wird dem Gericht hier einiges an Schwere genommen. Erneut äußerst gut. (7,5/10)
Ein Gazpachuelo mit regionalem rohem Fisch (Drachenkopf) und hauchdünnen Gewürzgurken passt in den „sahnig-senfigen“ Duktus des Menüs. Die hier auf der Basis von Muschelsud hergestellte kühle Suppe, die klassischerweise noch Knoblauch, Mayonnaise, Olivenöl und Eigelb beinhaltet, ist geschmacklich sehr stimmig abgestimmt. Eine von der „Milchigkeit“ der Suppe aufgefangene Salzigkeit und die Frische des Fischs stehen im Vordergrund dieses gehaltvollen und zugleich eleganten Gerichts. (7,9/10)
Das nächste Gericht besteht aus einer Zwiebelemulsion, die von einer Art „Kranz“ von Mayonnaisetupfen umrahmt ist. In der süßlich-säuerlichen Creme findet man einige Scheiben iberischen Schweinefleischs von so hervorragender Qualität und damit einhergehender Marmorierung, dass sie hier roh zum Einsatz kommen. Dazu gibt es einige Tropfen Petersilienöl. Erneut ist das Geschmacksbild „sahnig-senfig“, was man als repetitiv ‒ oder eben als Stil ‒ empfinden kann. Für sich betrachtet begeistert mich auch dieses Gericht, das vor allem durch die natürliche Schärfe der verarbeiteten Zwiebeln beeindruckt. Süffig, ätherisch, cremig, exzellent. (8/10)
Das exzentrische, ungewöhnliche Ambiente, entspannte Gäste und diese ganz dem „Genuss der alten Zeit“ gewidmeten Küche bereitet großes Vergnügen. Ein 2013er Puligny-Montrachet „Les Combettes“ von der Domaine Jacques Prieur (€ 200) tut dem Ganzen auch keinen Abbruch und passt wunderbar zur vollmundigen Cremigkeit der Gerichte.
Der Einsatz von Sahne, Ei und Butter macht sich inzwischen jedoch bemerkbar ‒ auch, weil das Tempo hier recht hoch ist. Ich bitte den freundlichen Service daher um etwas Entschleunigung, was kein Problem darstellt.
Mit angemessener kleiner Pause geht es dann weiter mit Weißem Thun vom Grill, angerichtet in einer Sauce Béarnaise. Letztere ist abermals fabelhaft umgesetzt und abgeschmeckt, verleiht dem Gericht aber erneut etwas Schwere, die der gehaltvolle Fisch in diesem Fall auch nicht so ganz ausgleichen kann. Dennoch sehr gut, vor allem wegen der beispielhaften Thunfischqualität. (7/10)
Die nächste Kreation besteht aus einer gegrillten Garnele aus Sanlucar bei Cádiz. Ihr ausgelöstes Fleisch duftet süßlich und nach Grill und wurde mit einer „Thermidor-Sauce“ überglänzt. Es ist eine der besten Garnelen, die ich je probiert habe. Mit ihrer „mürben“, aber saftigen, Textur und dem nussigen Geschmack erinnert sie viel mehr an hummerartige Krustentiere als an Garnelen. Die Sauce dazu ist erneut wunderbar, diesmal auch ansprechend leicht, bei intensivem, süffigem Geschmack. Koriander- und Margaritenblüten sowie weitere (hübsch anzusehende) Mikrokomponenten fügen dem Gericht eine florale Eleganz hinzu, die für diesen Teller nur höchste Weihen rechtfertigen. Ganz herausragend! (9/10)
Der Saucier muss wirklich ein Verrückter sein, im positivsten Sinn. Das folgende Gericht ist eine Seezungemeunière, die Sauce dazu eine glänzende Buttersauce mit erfrischendem Zitronengeschmack. Kleine, knusprige Kartoffelchips und einige Kräuter beleben das Gericht, bei dem die hervorragende, saftig-heiße Seezunge mindestens genauso begeistert wie die Sauce. (8,5/10)
Das Niveau reißt nicht ab. Eine präzise abgeschmeckte potage mit Tintenfisch und einem wachsweichen Eigelb bereitet weiterhin großen Genuss. Texturell bietet das Gericht im Wesentlichen drei Erlebnisse: die samtige Potage, dann das wachsweiche Eigelb und schließlich die bissfesteren Tintenfischwürfel. All das ist treffsicher gewürzt ‒ salzig, aber nicht versalzen, pfeffrig, aber nicht bissig. Und der Tintenfisch ist ausgezeichnet. (8,5/10)
Und dann: Bœuf bourguignon, zubereitet mit saftigem Wagyu-Rind und einer aromatisch komplexen, dichten Ochsenschwanzsauce. Das im Gegensatz zur „bürgerlichen“ Version dieses Gerichts hier verwendete Wagyu bietet auch geschmort große Freude. Durch die höhere Fettmarmorierung findet man keine Spur von Trockenheit oder Faserigkeit; im Gegenteil, das Fleisch ist butterzart, und der höhere Fettgehalt kann die Aromen der exzellenten Sauce noch besser transportieren. Auch hier war der Saucier wieder mit Herzblut am Werk, die Sauce klebt an meinen Lippen. Zu alldem bieten aufgerollte Karottenstreifen viel Geschmack mit etwas Biss, Champignons hellen das Geschmacksbild etwas auf. Die unscheinbar angerichtete Kreation ist ein Gericht der absoluten Spitzenklasse ‒ und ein Paradebeispiel dafür, wie sehr man manche Speisen bis zur Perfektion optimieren kann. (9/10)
Und wenn man denkt, es könnte kaum noch klassischer werden, serviert man jetzt einen lièvre à la royale. Dieser Klassiker der französischen Küche ist hier derart überzeugendend umgesetzt, dass das traditionell sehr schwere, oftmals undifferenzierte Gericht hier geradezu leichtfüßig daherkommt, dennoch mit aller geschmacklichen Wucht, für die es typisch ist. Die dazu servierte sauce grand veneur ‒ ein stark reduziertes Elixir aus, vor allem, Kalbsfond, Rotwein, Zwiebeln und Johannisbeeren ‒ schmeckt intensiv nach Lorbeer und Fleischextrakt. Ein buttriges Kartoffelpüree à la Joël Robuchon und einige Fruchtstücke, ich glaube Quitte, komplettieren dieses weitere herausragende Gericht. (9/10)
Geradezu euphorisiert davon, an diesem Ort in diesem Restaurant eine solche Küche serviert zu bekommen, blicke ich vorfreudig auf die Desserts.
Das erste ist dann gleich eines der besten Desserts, die ich jemals gegessen habe. Eine dekonstruierte tarte au citron mit luftigem, geflämmtem Eischnee, cremigem Eis mit Zitronengeschmack, wundervollen kandierten Zitronen und Mürbeteig-Krumen öffnet das Tor zu einer Genusswelt, die man nicht oft betreten kann. Ein Hauch Basilikumaroma parfümiert die Luft beim Eintritt in diese Welt. Augen zu und durch. (10/10)
Es folgt ein Dessert um die Themen Kirsche und Schokolade, eine für meinen Geschmack nicht immer einfache Liaison. Oft sind derartige Desserts zu süß und zu „dunkel“ ‒ hier ist das alles nicht der Fall. Ein leichtes Kirschsorbet erfrischt und kommt angenehm überraschend mit einem Lavendelaroma um die Ecke. Die Kirschen, von einer regionalen Sorte, sind mit einer Creme gefüllt, auch kirschig, aber nicht zu süß; die Stängel der Kirschen sind aus hervorragender Schokolade. Dazu gibt es eine Art in Kirschlikör getränkten Eierstich, was seltsam klingt, aber von der Textur her ein bisschen an Kuchen erinnert. In Summe ist das erneut sehr hohes Dessertniveau. (9/10)
Ein letztes Dessert mit einem Milcheis mit Haselnusscreme und Schokolade erinnert geschmacklich an Snickers und Vienetta-Eis (gibt es das noch?), nur mit einem Drittel der Zuckermenge. Die gerade soeben ausreichende ‒ aber eben ausreichende ‒ Süße zieht sich hier wie ein roter Faden durch die Kreationen der Patisserie. Das ist eine gute Idee, weil es die Desserts nicht zu schwer wirken lässt. Ein weiterer Dessert-Hochgenuss. (8,9/10)
Pralinen verschiedensten Art, alle köstlich (7,5/10), beenden das Menü, das einige phänomenale Überraschungen und Genüsse bereithielt. Das Restaurant trägt den Stern erst seit diesem Jahr, hat aber zweifellos höhere Weihen verdient. Denn hier in Andalusien begegnet man in zauberhaftem Ambiente eine fast schon verloren geglaubte französische Küche auf höchstem Niveau. ¡Olé! … Oder wie sagt der Spanier? Ach ja, vive la France.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Lú, Cocina y Alma (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Juan Luis Fernández |
Ort: | Jerez de la Frontera, Spanien |
Datum dieses Besuchs: | 05.07.2019 |
Guide Michelin (E/PT 2019): | * |
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