Tulus Lotrek ‒ rein gar nichts zu verlieren
Für den erstmaligen Gast existieren mehrere Hinweise darauf, dass es in diesem „Speiselokal“ ‒ so bezeichnet man Restaurants in Berlin landläufig gerne ‒, um ungenierten Genuss geht. Vielleicht sogar um Exzess. So wirbt auf der Internetseite ein roter Sticker für den garantierten „Kater von morgen“, und wer etwas weiter nach unten scrollt, erfährt auch, was es mit der frei interpretierten Schreibweise von Henri de Toulouse-Lautrecs Namen auf sich hat. Der französische Maler war nämlich ein hemmungsloser Gourmand ‒ eine Einstellung, mit der man sich offenbar gerne assoziiert. Zu sehr aufs alte Frankreich möchte man sich dabei aber auch nicht festnageln, daher die falsche Schreibweise.
Der lukullische Lockruf von Ess-Exzessen, einem lustvollen Frankreich der Belle Époque und dem Genuss (zu) vieler großer Weine hallte lange an mir vorbei. Sonst wäre ich den frohlockenden Klängen ganz sicher schon eher in Richtung Berlin-Kreuzberg gefolgt.
Das Tulus Lotrek widerspricht schon von außen den meisten Attributen, die man hierzulande gerne mit einem Sternerestaurant verbindet, bis auf die unmissverständliche Plakette mit Michelin-Stern neben der Tür.
Tritt man ein, steht man zunächst in einem Raum mit großer Theke. Der Bereich fungiert als Organisationsbereich für Getränke, ist jedoch offenkundig auch als Bar vorgesehen. Der Kater von morgen grüßt also schon im Eingangsbereich sehr herzlich.
Das Personal, das in der Bemusterung der Tapete eingekleidet ist und auf diese Weise wie in einer Fabelwelt mit dem Ambiente verschmilzt, ist nicht nur freundlich, sondern so gut gelaunt, dass das ansteckend ist. Das überrascht positiv, weil man in der Gastronomie zwischen förmlicher Höflichkeit und gelangweilter Coolness oft nur wenigen Nuancen begegnet. Dabei sind Authentizität und Humor für mich mit die wichtigsten Eigenschaften guten Personals.
Im Speisesaal, der dem Wohnzimmer einer Altbauwohnung ähnelt, sitzt man an schlichten Holztischen. Die Gardinen sind zugezogen. Das passt zum ungenierten Genuss ‒ in aller Diskretion.
Die Weinkarte ist dann schon mal der erste großartige Fakt des Abends. Viel Burgund, sehr gute Winzer, Jahrgangstiefe, faire Preise. Bis zu meiner Entscheidung für einen 2009er Gevrey-Chambertin „Les Combottes“ Premier Cru von der Domaine Georges Lignier (€ 138) überbrückt ein perfekt gekühlter 2012er Champagne Huré Frères „Instantannée“ (Glas € 18) meinen Durst.
Der passt gut zu den ersten Snacks. Es gibt einen Baiser mit Zitrone, Orange, Kürbis und Zitronenverbene, der angenehm mit säuerlichen Zitrusaromen spielt (7/10), dazu eine Störmousse ‒ mit Kaviar und Rote-Bete-Krokant ‒, die die rauchige Geschmackstiefe der Fischzubereitung hervorragend mit der Süße des Gemüses verbindet (8/10).
Eine schaumig aufgeschlagene, sehr präzise abgeschmeckte Venusmuschel-Velouté mit in Bier eingelegten Rosinen und Seeigel rundet den auffällig unverspielten, auf süffigen Wohlgeschmack getrimmten Auftakt auf hohem Niveau ab. Viel Bauch, wenig Kopf, das bereitet große Freude. (8/10)
Das erste Gericht des Menüs (€ 115) ist eine ausgelöste und in ihrer Schale präsentierte Jakobsmuschel. Das rohe Muskelfleisch ist darin in Scheiben aufgeschnitten und von makelloser Frische. Bei dieser Zutat bin ich diesbezüglich besonders empfindlich. Das von der Textur her kurzweilige Fruchtfleisch von Australischer Fingerlimette bringt aromatisch eine ansprechende Säure mit ins Spiel, aber das Highlight der Kreation ist eine scharfe XO-Sauce mit Speckwürfeln, die dazu angegossen wird. Dieser kecke Akzent ist mutig und transportiert mich gedanklich in die Küchen Hongkongs. (7,9/10)
Solche Assoziationen will man aber nicht dauerhaft kreieren, daher ist der nächste Gang wieder etwas französischer. Eine Tranche Steinbutt, perfekt gegart, wird von drei scheinbar klassischen Komponenten begleitet. Eine Beurre Blanc, Krustentiersud und Lauch klingen bekannt, sind aber hier, weil sie in Kombination auftreten, neuartig in Szene gesetzt. Ein nach bestem Handwerk reduzierter Krustentierfond wird durch die Beurre Blanc, die mit Molke in eine etwas leichtere Richtung gebracht wurde, interessant kontrastiert. Im Vordergrund des Geschmacksbilds ‒ aber dennoch so ausbalanciert, dass man alles andere wahrnimmt ‒ steht bei dem Gericht aber ein mit Lauch aromatisiertes Öl, sowie auch etwas eingekochter Lauch. Auf dem Teller sind also im Wesentlichen drei Saucen auf einmal, die den qualitativ hervorragenden Steinbutt angreifen. Dass das am Gaumen nicht zu einem Kampf ausartet, sondern ein äußerst harmonisches Ensemble darstellt, ist sehr gekonnt und einfallsreich. (8/10)
Der folgende Gang ist einer der beiden aufpreispflichtigen Extragänge. Die Art, kostenpflichtige Optionen anzubieten, sieht man eher selten auf Speisekarten, doch entspricht das im Kern natürlich demselben wie verschiedene Menügrößen zu unterschiedlichen Preisen.
Für ‒ das darf man, glaube ich, so sagen ‒ lächerliche zwölf Euro mehr gibt es dänischen Kaisergranat in einem phänomenalen Krustentiersud. Wenn man das klassische Handwerk so gut beherrscht wie es hier offenkundig ist, funktionieren auch Experimente. Man hat den Krustentiersud nämlich nicht einfach Krustentiersud sein lassen, sondern ihn mit Ssamjang, einer koreanischen Würzpaste, sowie Ingwer und Orange aromatisiert. Das macht den leicht schaumigen Sud dichter, pikanter und erweitert seine ohnehin schon breite Aromapalette in Richtung Exotik, ohne damit zu übertreiben. Ein separat servierter Krabbenchip mit brauner Butter und Kaisergranat-Tatar sorgt dann noch für texturelle Abwechslung. Qualitativ und geschmacklich eine Wucht. (8/10)
Papada, ein spezieller Schnitt aus der Backe vom Iberico-Schwein kommt mit Grünkohl, Aprikose und Pflaume. Mehr kann ich gerade nicht notieren, da ich vom Duft des Gerichts so abgelenkt war. Das herzhafte Aroma bestätigt sich am Gaumen erwartungsgemäß in Form von süffigem Wohlgeschmack. Ein feines Spiel aus Säure und Süße begleitet den charakteristischen Geschmack von Grünkohl, der das geschmackliche Leitmotiv des Gerichts ist. Das Fleisch ist gut, ginge aber vermutlich noch etwas zarter. Dennoch sehr gut. (7/10)
Es geht weiter mit einer abenteuerlich klingenden Komposition. Die Grundlage bildet eine Ochsenschwanzconsommé. Sie wurde wie aus dem besten klassischen Kochbuch hergestellt und ist heiß, sehr aromatisch und durch die ausgekochte Gelatine schön klebrig an den Lippen. Neben etwas Schnittlauch findet man in der Brühe dünne Streifen Tintenfisch sowie, weiter unten auf dem Grund des Tellers, Tintenfisch-Eierstich (chawanmushi), der so dunkel ist wie Schlick im Wattenmeer. Blutorangenöl komplettiert das Abenteuer, das zwischen klassisch und experimentell, flüssig und bissfest äußerst vielfältig ist ‒ und erneut als ein harmonisches Ganzes überzeugt. Spannend und abermals sehr gut. (7/10)
Ozaki-Rind ist eine weitere Zusatzoption des Menüs. Für € 38 gibt es das berühmte japanische Fleisch eines Züchters bei Kobe ganz pur, in Streifen geschnitten und in einem Pilzsud serviert. Das Fleisch hat einen ausgeprägten, authentischen Eigengeschmack, der durch den hohen Eigenfettanteil besonders gut zur Geltung gelangt. Der dichte, köstliche Pilzsud fügt etwas Säure und jede Menge Umami hinzu. Dass man hier nicht davor zurückschreckt, eingeflogene Zutaten aus Japan zu verwenden, mag einer, gerade in Berlin, diskutabel finden. Ich halte es in diesem Konzept für schlüssig und genussfördernd. Man muss ja nicht in jedem Restaurant die Leviten gelesen bekommen. (7,5/10)
Das Dessert ist gegrillte und mit Cuate-Rum von Barbados abgelöschte Ananas, darauf findet man ein Orangenblütenwasser-Safraneis. Für mich gibt es kaum bessere Desserts als solche mit karibischem Geschmacksbild, und dieses hier ist außerordentlich gut. Die saftige, geschmacklich intensive Ananas, deren süße, exotische Aromen sich wunderbar mit dem Rum vermählen, ist betörend; das Safraneis, mit ganz filigraner Orangennote, fügt Kühle und eine leichte Bitterkeit hinzu, die von der karibischen Hitze so erlösend ist wie die Authentizität dieses Tellers. Man muss sich einmal vorstellen, dass man in deutschen Spitzenrestaurants solche Geschmacksbilder eigentlich nur noch in Form von Cremes und Gels zu probieren bekommt. Das hier ist kein komplexes Tellerkunstwerk, aber ein schlichtes, traumhaftes Dessert, das alle Wünsche an einen schwelgerischen, süßen Abschluss mit Bravur erfüllt. (8,5/10)
Verträumt, gesättigt und kulinarisch bereichert verlasse ich wenig später das Restaurant, vermisse Palmen, das Meer, Frankreich und Hongkong. Aber ich bin auch beschwingt und hoffnungsvoll, weil man sogar in Berlin noch Restaurants entdeckt, die sich so klar zum (französischen) Genuss bekennen. Der versprochene Kater am nächsten Tag bleibt aber aus. Ich fürchte, da muss nächstes Mal nachgebessert werden.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Tulus Lotrek (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Maximilian Strohe |
Ort: | Berlin, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 23.02.2019 |
Guide Michelin (D 2018): | * |
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