Le Calandre – das Risotto
An diesem Ort will man eigentlich nichts verloren haben. Vielleicht tue ich dem Örtchen Rubano, das eine Dreiviertelstunde Fahrt in westlicher Richtung von Venedig entfernt liegt, Unrecht, aber der erste Eindruck ist nicht ausreichend, um über eine zweite Chance nachzudenken. Was nicht bedeutet, dass ich jemandem davon abraten würde, an diesen Ort zu reisen.
Im Gegenteil. Denn an einer ansonsten tristen Straßenecke hat die Familie Alajmo eine kleine Gastronomie-Oase erschaffen. Ein Café, ein Feinkostgeschäft und das Gourmetrestaurant wirken in dieser Tristesse wie eine Erlösung nach einem verzweifelten Marsch durch die Wildnis.
Noch vor 18 Uhr flüchte ich schnell ins Café, obwohl es noch über zwei Stunden bis zu meiner Reservierung im Restaurant sind. Es gibt hier köstliche Petit Fours, exzellenten caffè und eiskalten Bollinger-Champagner. Ich mag solche skurrilen Wohlfühl-Orte, die in völligem Kontrast zu ihrer Außenwelt stehen. Ich mag es auch, wenn es dunkel wird und einen ein solcher Ort langsam aufsaugt. Warmes Licht, freundliche Menschen und die Vorfreude auf möglichen Genuss prägen die frühabendliche Aperitifkulisse.
Im Restaurant ist es dann auch ziemlich dunkel. Nur einzelne Spots beleuchten die Tische, dabei schaffen der offene Saal und das freundliche Personal eine sehr behagliche Atmosphäre. Da macht es gleich Spaß, in den Speise- und Weinkarten zu stöbern. Das Ergebnis auf der flüssigen Seite ist ein offenes Glas 2011 Meursault Vielles Vignes von Vincent Girardin (€ 12) und eine Flasche 2009 Echezeaux desselben Winzers (€ 225).
Die Speisekarte beinhaltet drei Menüs (je € 235), unter denen man bei Bedarf auch flexibel kombinieren kann. (Ich habe nie verstanden, warum manche Restaurants das erlauben und manche sich erlauben, das nicht zu erlauben.) Meine Wahl fällt auf das Menü „classico“.
Drei kleine Amuse-Bouches werden serviert. Eine lauwarme Mini-Pizza ist würzig, saftig, sehr gut (7/10); ein u. a. mit einer Creme von weißem Trüffel und Parmesan gefülltes, perfekt gearbeitetes Teigkissen ist eine reine Wonne (9/10); und eine Kreation mit Tartar von Kaisergranat und einer säurebetonten Sauce erinnert vom Mundgefühl her etwas an sehr gutes Sushi (9/10). Ein starker Auftritt, der den Wohlfühlfaktor weiter steigert.
Mehr Amuses gibt es nicht, was ich vor einem umfangreichen Menü eigentlich immer begrüße.
„Fu…mare“, ist der Titel des ersten Gangs, ein Wortspiel mit den Begriffen Räuchern und Meer. Auf den ersten Blick erschließt sich das Meer – bis auf den Kaviar – nicht, doch dann: es gibt ein Eis vom Thunfischbauch (!) in einem Sud von geräucherter Makrele, darauf ein nicht gerade geiziges Stück Bottarga. Das Gericht ist kraftvoll und schmeichelnd zugleich. Man schmeckt Fisch und Salzwasser, Gischt, Feuer und kühle Meeresluft, die Kälte und cremige Textur vom Eis ist hier das einzige, das diese Kräfte bändigt. Große Bilder, großer Geschmack, aber die sehr große Portion Eis bringt das Boot etwas ins Straucheln. Nicht, dass ich noch Seekrank werde … — 9/10
Es folgt Kaisergranat, etwas sonderbar versteckt in einer Art frittiertem Fadenknäuel. Ich befreie das Tier schnellstmöglich aus dieser misslichen Lage und kann gerade noch rechtzeitig seine makellose Qualität feststellen. Die Fäden, in denen er gefangen war, sind hart, schmecken neutral bleiben auf dem Teller liegen. Ganz hervorragend sind dann wiederum die Scheren, die man ausgelöst und so hauchdünn frittiert hat wie es sonst nur japanische Köche meistern. Eine mayonnaiseähnliche Sauce mit Gelbwurz ist eine dekadente Tunke dazu, aber dem Kaisergranat wurde hier dennoch ganz schön zugesetzt. (7/10)
Für den dritten Gang wird zunächst eine Folie aufgedeckt, auf die jemand „first taste“ geschrieben hat. Da es sich eindeutig nicht um die erste Degustation des Abends handelt, muss etwas Anderes gemeint sein. Und wer jetzt den Gedanken an Muttermilch wieder verwirft, sollte seiner Intuition lieber doch folgen, denn, so wird erklärt, soll es tatsächlich um diese Assoziation gehen.
Gemeint ist ein „Cappuccino“ mit Tintenfisch, Kartoffelcreme, Schnittlauch und Olivenöl, und bereits der Duft der heißen Dämpfe löst Wohlbefinden und Wohlgeschmack aus. Am Gaumen dann auch süffiger Hochgenuss der Extraklasse. Die vorgegebene Assoziation des Küchenchefs ist zwar recht befremdlich und garantiert auch etwas therapiebedürftig, tut dem Genuss des Gerichts aber keinen Abbruch, meinen eigenen Bildern dazu jedoch schon. Geschmacklich und qualitativ auf jeden Fall exzellent. (9/10)
Bodenständig fährt das Menü fort, nun mit einem knusprigen, mit Ricotta und Mozzarella gefüllten Röllchen (Cannelloni), das man in eine Tomatensauce tunkt. Diese – und nur diese – ist bei diesem Gang eine absolute Offenbarung, denn sie könnte nicht besser gemacht sein. Sie ist heiß, schmeckt intensiv nach kleinen, reifen, süßen Tomaten; die Kräuter in der Sauce sind fast alle einzeln herauszuschmecken, und auch das Salz ist perfekt abgeschmeckt. Eine Referenz! Aber durch das spröde, käsige Röllchen ist das Gericht in seiner Einheit nicht mehr als „sehr gut“. (7/10)
Die fünfte Kreation des Menüs ist Pasta, genauer hausgemachte Tagliolini mit kleinen Streifen geräucherten Schinkens, gehobeltem getrockneten Eigelb und einem zu Gelee eingekochten, intensiven Hühnerfond. Die Pasta ist so „schlotzig“, dass sie beim Aufwickeln auf die Gabel (wobei eine Tellermulde demjenigen hilft, der dabei Hilfe benötigt) ein regelrecht unanständiges Geräusch von sich gibt. Die Pasta ist großartig! Perfekt gekocht, salzig vom Hühnerfond, heiß und süffig, vielleicht etwas zu rauchig. (9/10)
Es geht weiter mit Risotto, dem Klassiker des Hauses schlechthin. Es kommt in einer cocotte von Le Creuset, die nicht nur das intensive Gelb des Risottos perfekt kontrastiert, sondern auch die Hitze gut speichert. Das Risotto wurde mit viel Butter und sehr viel Safran gekocht, so viel, dass überhaupt erst die anspruchsvolle Bitterkeit des raren Gewürzes voll zur Geltung gelangt. Das erinnert mich sehr an den Moment, an dem ich zum ersten Mal in die bittere, erdige Geschmackswelt von frischem schwarzen Périgord-Trüffel eingetaucht bin, die ja mit der Aufdringlichkeit des weißen italienischen Pendants rein gar nichts zu tun hat. Während ich die ersten Löffel dieses Risottos probiere, habe ich unweigerlich Assoziationen zu perfekt gekochtem Sushi-Reis. Doch es passiert noch viel mehr. Etwas Lakritzpulver bringt auf einmal ein fruchtiges Aroma mit ins Spiel, das mich in dieser Kombination an Gin erinnert. Mit dieser ganzen Faszination vor Augen und am Gaumen löffle ich das Schälchen bis aufs letzte Korn leer und kann mit Fug und Recht behaupten, dass dies das beste Risotto ist, das ich je probiert habe – und vielleicht auch jemals probiert haben werde. (10/10)
Es sei denn … ja, es sei denn, ich bekomme es gleich noch mal serviert. Tatsächlich sieht dieser Gang des Menüs einen zweiten Akt vor, und zwar eine Weiterentwicklung des bereits großartigen Klassikers. Ich traue meinen Ohren kaum als mir der Kellner erklärt, dieses Risotto würde nun mit einem Wacholder-Sud serviert. Wacholder! Gerade eben erst hatte ich noch die Eingebung von Gin im Kopf. Frappierend, wie folgerichtig ein bestimmtes Aroma zu anderen sein kann. So eindringlich habe ich das noch nie erlebt. Eine Offenbarung, für deren Entdeckung ich dankbar und voller Freude bin. (10/10)
Weiter geht die inzwischen begeisternde Reise mit etwas Erdendem, einem Tartar von hervorragendem piemontesischen Rind, dazu etwas Brot und weißer Trüffel, frisch gehobelt und als Creme. Das isst man einfach alles mit den Fingern und erfreut sich des unkomplizierten Hochgenusses. (9/10)
Mit den Fingern und Brot geht es weiter. Fare la scarpetta heißt diese Art zu essen im Italienischen, wobei scarpetta gleichzeitig auch Schühchen bedeutet, was die Präsentationsform des nächsten Gangs erklärt. (Ohne diese Erläuterung hätte ich auch ernsthafte Schwierigkeiten gehabt, eine Assoziation zu einem Gericht zu finden, das man sich aus einem kleinen Mädchenschuh zu Gemüte führt. Seltsam genug bleibt es in jedem Fall.) Pastrami scarpetta besteht aus einer exzellent zubereiteten Creme, die zusammen mit dem ebenfalls exzellenten Brot die Geschmackswelt eines Pastrami-Sandwichs äußerst gelungen wiedergibt. Das macht richtig Spaß! (8/10)
Der Hauptgang (im Foto die Portionsgröße der A-la-carte-Version) ist geröstetes Ferkel. Dazu gibt es eine schaumige Senfcreme mit Kaffeepuder sowie etwas Gemüse, ich glaube u. a. Spinat und Staudensellerie. Das Ferkel hat eine sehr harte, knusprige Kruste, was zweifellos gewollt, aber etwas schwierig handhabbar ist, weil man das Fleisch darunter beim Anstechen regelrecht zerdrückt. Hat man dies gemeistert, genießt man dazu ungemein zartes und aromatisches Fleisch. Die Creme mit Senf ist hervorragend – viel zu selten findet Senf in der Spitzenküche Beachtung, passt jedoch gerade zu Schwein oder Geflügel besonders gut. Der Bratenjus hätte noch etwas dichter eingekocht und würziger abgeschmeckt worden sein, dieser hier ist etwas fad und tendiert in eine süßliche Richtung. Dennoch eine exzellente Darbietung von Produktqualität. (8/10)
Vor den Desserts gibt es einige erfrischende Happen in Form von Früchten und einer Fruchtschnitte. Die scheinbar offenkundigen Aromen habe alle einen geschmacklichen „Twist“ in petto, z. B. weihnachtliche Gewürze wie Kardamom. Raffiniert! (8/10)
Dessert Nummer eins ist Lambrusco mit Kirschsorbet und heißen Beeren. Die fruchtige Kreation erinnert etwas an rote Grütze, bietet jedoch viel mehr Facetten, z. B. ganz hervorragende Beeren und eine feine Säure. Exzellent. (8,5/10)
Dessert Nummer zwei (bufala du mandorle – „Mandelmozzarella“) ist eine weiße Kugel, für die ich zunächst nur einen recht skeptischen Blick übrighabe, der sich auch nicht ändert als ich die Kugel zerbreche und ein gräulicher Schaum austritt. Es dauert nicht lange, bis sich meine Gefühlsregung in Neugier wandelt – und wenig später in nichts Anderes als puren Genuss. Denn die seltsam flüssige Dessertsuppe, betört durch eine unwiderstehliche Kombination aus Mandel, Honig, Eiweiß, Zucker und, tatsächlich, Wasser – sowie überraschend großartigen Mitspielern wie Olive, Olivenöl, Basilikum und irgendetwas Pikantes, vielleicht Pfeffer oder etwas noch Schärferes. Das Dessert ist eines der überraschendsten und besten, die ich je probiert habe. (10/10)
Allein des Risottos wegen ist dieses Restaurant eine Reise wert, auch die Pasta und andere Gerichte haben Maßstäbe gesetzt. Besonders gefallen hat mir die sehr behutsame Art der Modernisierung, denn unter einigen kreativen Ideen steckte am Ende immer ein exzellentes Handwerk, erkennbar gute Produkte und ein sehr auf Wohlgeschmack fokussiertes Essen. Legt man alle Gerichte in die Waagschale, existieren auf dem vom Michelin attestierten Niveau durchaus konstantere Menüs und noch bessere Produkte, aber dieses Risotto muss man einfach probiert haben.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Calandre (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Massimiliano Alajmo |
Ort: | Rubano, Italien |
Datum dieses Besuchs: | 18.10.2016 |
Guide Michelin (I 2016): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens (?): | |
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