Arpège – Haute Couture
„Alors, ça va?“, fragt mich einer der berühmtesten Köche der Welt, während er sich von hinten mit beiden Armen auf meine Schultern stützt als wären wir gute Kumpels. Dabei bin ich erst zum zweiten Mal hier. Das erste Mal ist vier Jahre her.
Passard macht das nicht nur bei mir, sondern an vielen Tischen. Mal lehnt er sich an eine Wand neben einer Tischgesellschaft und plaudert lässig, als gäbe es nichts anderes zu tun, mal rennt er scheinbar ziellos umher und präsentiert stolz seine erstaunlichen Rohstoffe: einen makellosen Kürbis, eine Zucchini oder eindrucksvolles Geflügel.
Das manchmal etwas verloren wirkende, regelrecht kindliche Umherirren seiner Person schafft in Passards kleinem Restaurant mit enggestellten Tischen eine heimelige, sehr persönliche Atmosphäre. Man hat das Gefühl, bei ihm privat zu Gast zu sein. Und irgendwie ist man das ja auch. Passard ist Eigner des Restaurants. Das hier ist seine Welt.
Vor ein paar Minuten war alles noch etwas anders. Da saß ich im Untergeschoss, von dessen Existenz ich zuvor gar keine Kenntnis hatte. Der gewölbeartige Raum mit nur wenigen Tischen ist zwar gemütlich, aber auch etwas eng und abseits vom Schuss. Aufgrund eines Defekts der Klimaanlage konnte man die Luft da unten regelrecht in unappetitliche Stücke schneiden, was mein etwas klaustrophobisches Gefühl dort noch verstärkt hatte. Ich bat dann um einen Tisch im Erdgeschoss, an dem ich jetzt sitze und bereits in der Speisekarte stöbere.
Passard erwidere ich kurz „oui, merci, ça va très bien“. Dann beginnt er, in seiner immer etwas abwesend wirkenden Art, die Speisekarte zu erläutern. Ganz plötzlich bricht er ab, scheinbar ohne Grund, und folgt einem anderen Reiz. Das ist verwirrend, aber gerade deshalb sympathisch.
Ich tendiere zu einer Auswahl à la carte, entscheide mich aber letztlich für das Menü „La rentrée du jardin“ („die Ernte des Gartens“, € 270). Passard ist berühmt für sein Gemüse, das er überwiegend aus eigenen Gärten nahe von Paris bezieht. Selbst dort kann man dinieren. Foodie-Freunde von mir waren kürzlich dort und haben ihm beim Gemüseschnippeln über die Schultern geschaut: Passard pur und exklusiv und wirklich privat – für alle, denen eine normale Reservierung in einem der weltberühmtesten Restaurants zu gewöhnlich ist. Ganz richtig, wer etwas Neid aus meinen Zeilen liest.
Das Essen beginnt mit ein paar Tartelettes – knusprige kleine Gebäckstücke –, die ersten lauwarm und fein herzhaft, die anderen mit verschiedenen aromatischen Cremes gefüllt: Zwiebel, Paprika, Aubergine. Das ist alles recht schlicht, aber es sind tadellose Aperitifsnacks. Ich mag die französische Aperitifkultur.
Der erste Gang ist ein „Gemüsesushi“ mit einer Scheibe Bete und, obenauf, einem Kompott mit Feige. Die kleine Speise ist schon geschmacklich exzellent genug, um hoch zu punkten, doch sie ist nicht weniger als phänomenal für jemanden, der die Großartigkeit authentischen Sushis kennt. Wie oft habe ich kolportiert, dass es bei Sushi nicht um Fisch geht, sondern um das Mundgefühl, um Reis, Säure und Texturen. Natürlich weiß das auch ein Koch wie Passard. Mit dieser Hommage an Japan transferiert er sein Wissen eindrucksvoll auf seine Küche.
Es geht weiter mit einer einzigartigen Produktdarbietung. Perfekt reife Tomatenverschiedener Sorten, dünn aufgeschnitten, liegen da vor einem auf dem Teller, auf den ersten Blick ganz pur und ohne weitere Zutaten. Doch beim Probieren entdecke ich neben dem süßlich herzhaften Aroma der saftigen Tomaten noch etwas Anderes. Ich kann es nicht ausmachen, rate falsch Rose oder Litschi. Opportunerweise kommt Passard gerade vorbei, und ich kann ihm im Vorbeigehen entlocken, dass es sich um Geranienöl handelt. Selbstgepresst natürlich, das frage ich nicht einmal nach. Es schmeckt alles großartig.
Um verstehen zu können, warum ein so extrem puristisches Gericht (ein paar Scheiben Tomaten mit Öl!) in einem Drei-Sterne-Restaurant Platz hat, benötigt man Erfahrung mit der Begeisterung für derartige Qualitäten. Und wer diese noch nicht hat, erlangt sie spätestens hier. Die Perfektion der Natur ist schlicht. Und äußerst köstlich. Ein wundervoller Teller, von dem ich lange zehren und erzählen werde.
Bringt man – neben reiner Produktqualität – auch noch veritables Kochhandwerk ins Spiel (was man von einem solchen Restaurant durchaus erwarten darf), kann das Niveau natürlich nur noch weiter anziehen. Das Ergebnis kann dann so etwas Unvergessliches sein wie diese Kreation mit Sellerie und Steinpilz und Sauerampfer. Gerichte wie diese sind es, die mich dazu bewegen, immer wieder zu betonen, dass nahezu jede Zutat größtmögliche Zufriedenheit erzeugen kann, sofern die Qualität hoch genug ist. Sellerie! Ein Gemüse, das überwiegend dazu verdammt ist, jämmerlich oxidiert und gummiartig in einem Bund Suppengrün zu enden, kann der größtmögliche Genuss sein! Hier ist die Knolle schneeweiß, bissfest gegart und auf das Milligramm perfekt mit Salz abgeschmeckt, dazu noch angenehm heiß, umhüllt von einem luftigen Schaum seiner selbst, kontrastiert mit ätherisch aromatischen Steinpilzen von überbordender Frische. Absolut grandios. Danke für einen neuen Bezugswert für diese Zutat.
Die vegetarische Reise geht weiter. Nächster Halt sind verschiedenfarbige Ravioli – Apfel, Melone und Sellerie werden genannt –, die in einem heißen, bernsteinfarbenen Sud noch etwas nachgaren. In diesem verarbeitet: Tomate, Gurke und Eisenkraut. Alles hieran ist fantastisch: das Handwerk der Nudeln, die Hitze, die das Silberschälchen am liebsten bei sich behalten möchte, und die akzentuierten, feinen Aromen der jeweiligen Füllungen.
Dann: Zwiebel und heißes Fett. Wer kennt diese verführerisch duftende Kombination nicht? Wer würde nicht gerne zulangen, wenn in einer heißen Pfanne Schalotten in guter Butter karamellisieren und ihr einlullendes Aroma freisetzen? Üblicherweise mäßigt man sich. Man langt nicht zu, denn meist sind in der Pfanne bratende Zwiebeln erst der Anfang von irgendwas. Hier nicht. Hier sind sie das Ergebnis: ein Zwiebelgratin mit Parmigiano Reggiano und einem herrlich frischen Blattsalat obenauf. Das könnte man mühelos auch in einem Bistro servieren, doch kein Bistro wird derartige Zwiebeln verarbeiten. Und selbst der Blattsalat ist unverschämt gut abgeschmeckt. Jedes Blatt strotzt nur so vor Frische. Der Gratin ist ganz flach, nur ein bis zwei Millimeter – wie Zwiebelscheiben eben – und schmilzt am Gaumen. Ich schmelze mit. Gabel für Gabel. Ein perfektes Gericht!
Ebenfalls hervorragend sind die Beten mit konfiertem Rhabarber. Das Gericht ist mit seiner Natürlichkeit nicht nur optisch ansprechend, sondern auch aromatisch. Die Beten sind in ihrem Aroma zwar etwas verhalten, aber der süßlich-saure Rhabarber und der ätherische Estragon liefern Halt. Perfekte Garpunkte, perfekte Zutaten.
Auf dem nächsten Teller finden sich Kartoffeln, Zwiebeln und Estragon sowie weitere, nicht notierte, Zutaten. Ebenfalls exzellent, ebenfalls ein Hochgenuss. Die intensiven Aromen, die in der immer spürbaren Wärme der Teller besonders gut zur Geltung kommen, suchen ihresgleichen. Wunderbar!
Sensationell ist dann auch eine Tomaten-Tartelette, entfernt an Pizza erinnernd, aber mit Blätterteig gemacht und nur wenig Salz. Die Tomaten sind saftig und süß, der Teig leicht und knusprig. Wo ist das Backblech?
Die nächste Speise dieses umfangreichen, angenehm sättigenden, aber keinesfalls füllenden Menüs, ist eine Ruchgras-Velouté mit einer crème soufflée. Die Aromen erinnern etwas an die Erdigkeit von Kürbis, die Creme steuert einen eleganten Hauch Vanille bei … Aufregend, anregend, köstlich.
Es folgt ein Gang mit diversen Gemüsesorten („Jardin Arlequin“), „Gemüse-Merguez“ mit Harissa sowie Grieß mit Arganöl. Durch die Vielfalt der Zutaten geht hier leider der Fokus verloren und zeigt auf, wie schnell auch eine derart reduzierte Küche kippen kann. Das Gericht wirkt etwas wie aus Resten zusammengewürfelt. Allerfeinste Reste natürlich: es sind auch hier überragende Produktqualitäten auf dem Teller, für die ich eine große Zahl anderer Gerichte links liegenlassen würde.
Und wo gerade noch Fokus fehlte, sieht man hier wieder gestochen scharf: Auf diesem Teller findet man ein Stück von einer in der Salzkruste gegarten Bete mit Quittenpüree wieder. Ein aromatischer Volltreffer.
Der süße Teil des Menüs überzeugt indes nicht. Es gibt verschiedene, klassische Petits Fours, vom Schweinsohr über Macarons bis zu Paris-Brest. Klar, man hat seine Freude daran, alles durchzuprobieren. Vieles davon ist auch köstlich, aber in Summe wirkt das alles so als hätte es schon lange darauf warten müssen, serviert zu werden.
Auch ein Apfelkuchen in Rosenform zerfällt am Gaumen eher zu Krümeln als für saftig-warmen Apfelkuchengenuss zu sorgen. Eine hervorragende Thymiancreme setzt aber dann noch mal ein Ausrufezeichen an dieses ganz überwiegend traumhafte Menü.
Für mich als Produktfanatiker gibt es kaum etwas Besseres als eine derart natürliche und produktbezogene Küche. Wie auch die – völlig andere, mediterrane – Gemüseküche von Alain Ducasse, zeigt auch die aus dem Hause Passard, wie groß und genüsslich die Vielfalt von Gemüse sein kann. Doch das ist keine Ode an Vegetarismus oder andere dogmatische Einstellungen zum Essen. Im Gegenteil. Eine Küche wie diese unterstreicht die Wichtigkeit, Produktqualitäten in den Mittelpunkt zu stellen – bei allem, was man isst. Sie verdirbt einen, aber schärft die Sinne. Sie lässt einen vor Genuss die Augen schließen, aber öffnet einem die Augen. Sie ist simpel, aber großartig.
Ganz in diesem Sinn freue ich mich schon aufs nächste Mahl bei Passard, wenn ich sein wie an einen Horrorfilm erinnerndes Zwittergericht aus Poularde und Gans (Corps à corps de volailles haute-couture) probieren werde. Hoch lebe das Produkt!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Arpège (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Alain Passard |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 09.10.2015 |
Guide Michelin (F/MC 2015): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |