Troisgros – Injektionen von Erinnerungen
Roanne liegt ungefähr neunzig Kilometer nordwestlich von Lyon und ist nicht gerade ein touristischer Hotspot. Es gibt hier etwas Agrar- und Textilindustrie und einen Hersteller für Militärpanzer. Und gäbe es in dieser unwirtlichen Kulisse nicht die kulinarische Bastion der Familie Troisgros, würde sich an diesen Ort wohl niemand so schnell verirren.
Aber diese Bastion steht felsenfest. Seit fast fünfzig Jahren ist das Haus Troisgros mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Inzwischen führt Sohn Michel die Geschäfte; seine Frau Marie-Pierre ist unter anderem für die Einrichtung des Hauses zuständig.
Als ich den merkwürdigen Betonkasten betrete, ist es als hätte ich das Tor zu einer anderen Welt passiert. Statt angestaubtem Charme aus alten Zeiten empfängt mich ein geradlinig gestaltetes, edles Interieur mit dunklem Holz, warmen Erdtönen und ebenso warmem Licht aus Designerlampen.
Nichts davon wirkt aufgesetzt, alles wurde sorgfältig und stilsicher ausgewählt. Die Botschaft ist unmissverständlich: hier geht es um Kontraste zwischen Modernität und Tradition, um Perfektion und Eleganz.
Ich bin recht früh dran für mein Mittagessen – es ist erst halb zwölf –, daher nehme ich in der Bar Platz und lasse erst mal das Ambiente auf mich wirken. Das gelingt äußerst gut bei einem Champagne Sichuan (€ 15), einem Aperitif mit Bollinger-Champagner, Minze und Sichuan-Pfeffer.
Ich bin normalerweise kein Freund davon, Champagner mit irgendetwas zu mischen, doch diese Kreation begeistert durch das florale, würzige Bouquet des Pfeffers und ist, noch ungeahnt, eine perfekte Einleitung in die Küche von Michel Troisgros.
Noch während ich hier sitze, werden ein paar Einstimmungen gereicht. Es gibt eine lauwarme, leicht knusprige Kugel mit Ingweraromen, die schon so unglaublich gut schmeckt, dass alle Anreisestrapazen von mir weichen. Ich probiere weiter: ein zunächst völlig unscheinbar aussehendes „Kissen“ kann doch nicht so aufregend sein, denke ich, und werde arg getäuscht. Die luftige Kleinigkeit ist gefüllt mit Käse und Haselnuss, aber nicht so profan wie das klingt, sondern mit überraschenden Aromen von Blumen, Feldern, Wiesen und Frühling … eine Wucht. Auch ein einem Ei-Achtel ähnelnden Gebilde mit Safrangelee ist großartig.
Eine weitere Petitesse ist eine ausgebackene oder anderweitig getrocknete Kumquatschale mit einem Kräuternest. Näher an mich herangeführt füllt die kleine Kreation meine Atemluft mit Düften von Kokos, Zitrusfrüchten und lauen Strandtagen in der Karibik … zum Träumen und zum Augenschließen.
Es gibt Speisen, so wie diese, die wie eine Injektion von Bildern und Erinnerungen wirken. Das sind für mich die besten Speisen, solche, die über ein perfektes Handwerk hinausgehen und für die ich meine Höchstnote reserviere, weil sie zusätzlich zur kulinarischen Makellosigkeit ein ganz persönliches Erlebnis auslösen. 9/10 muss hier jeder attestieren, der große Küche erkennt, die 10/10 gehören mir allein.
Völlig aufgewühlt folge ich dem netten Angestellten, der mich in den Speisesaal zu meinem Tisch bringt. Die grau-beige Einrichtung wirkt beruhigend und durch die Farbwahl und Schlichtheit sehr japanisch.
Ich habe nicht viel Zeit für dieses Mittagessen – nachher geht es weiter in Richtung Régis et Jacques Marcon –, daher habe ich leider keine Gelegenheit für ausschweifende oenophile Eskapaden. Aber mit einem Glas 2011er Meursault des grandiosen Erzeugers Jean-François Coche-Dury (€ 25) bin ich bestmöglich versorgt. Zufrieden atme ich tief durch und genieße meine Vorfreude auf alles Kommende.
Warme Brioche wird serviert, dazu gesalzene Butter, beides in Qualitäten, die nicht besser zu haben sind. Chateldon-Wasser wird sorgfältig karaffiert als handele es sich um einen zerbrechlichen alten Burgunder. Eine Holzkugel auf der Karaffe schützt das Wasser vor entweichender Kohlensäure. Warum solche Prozeduren in Frankreich niemals affektiert, sondern elegant und stilsicher wirken, frage ich mich, werde aber beim Suchen nach einer Antwort durch das Servieren des ersten Gangs abgelenkt.
Was für eine Augenweide! Vier Stangen makellosen Spargels aus der Provence liegen auf dem Teller vor mir, die Spitzen in ihrem natürlichen Grasgrün leuchtend und der Rest „lackiert mit schmackhaften Saucen“ (Asperges vertes de Provence, lacquées de sauces goûteuses, € 85). Sie hinterlassen auf dem schneeweißen Teller keinerlei Spuren, nicht einmal einen Schatten. Es ist fast so als wären die Spargelstangen eine Halluzination, die über dem Teller schwebt.
Ich taste mich heran. Schon der Anschnitt mit meinem Messer ist unvergleichlich und offenbart die perfekte Garung: nicht weich, sondern bissfest, aber auch nicht zu knackig. Es fühlt sich einfach richtig an. Bei der ersten Stange ergänzen intensive Basilikumaromen das edle Gemüse. Das schmeckt ätherisch und einnehmend. Die zweite Stange trägt ein feuriges Kleid aus ziemlich pikanter Paprika. Das ist nichts für schwache Nerven, aber hinter all dem Feuer findet man fruchtige, nussige Aromen, die in Verbindung mit dem frischen Spargel geschmackliche Vollendung hervorbringen. Stange Nummer drei (ich probiere immer wieder zwischen den Stangen hin und her) reißt mich mit Senf und Safran in Richtung Orient, und Stange vier – mit erdigen Trüffelnoten – bringt mich zurück in heimische Gefilde. Das Gericht wird lange Zeit, vielleicht für immer, mein persönlicher Maßstab für grünen Spargel sein.
Das Niveau hier ist so hoch, dass es unerheblich wäre, wenn alle folgenden Gänge mir nicht gefielen – eine Reise hätte sich bereits jetzt gelohnt.
Gelassen wegen dieser Erkenntnis, aber erwartungsvoll, blicke ich dem nächsten Gang entgegen. Es handelt sich um mein Lieblingskrustentier (ja, so etwas habe ich) den Kaisergranat, laut Beschreibung der Karte mit Kirschblüten (Langoustine et fleurs du cerisier, € 120).
Das Kunstwerk in Rosa, Rot und Gelb duftet betörend. Nach Butter und etwas Säure. Und nach etwas, das ich nicht ausmachen kann und vielleicht der Kirschblüte zuzuordnen ist. Blumige Aromen mischen sich dazu. Der Teller ist eine olfaktorische Offenbarung. Ich könnte solange daran riechen bis das Gericht erkaltet und keine Aromen mehr preisgibt. Es wäre allein dafür jeden Cent wert gewesen.
Stattdessen beginne ich, zu kosten. Der Kaisergranat (das hierzulande zermürbend oft mit „Languste“, „Langustine“, „Langostino“ oder beliebig anders falsch beschriebene Tier) ist perfekt. Perfekt im Geschmack (mit dieser verführerischen „rauchigen Süße“) und perfekt in der Textur (kurz nach glasig). Der Teller gibt lauter Entdeckungen preis. Es gibt hauchdünn aufgeschnittene Rübchen, die inmitten der Üppigkeit der buttrigen Sauce eine Frische beisteuern; dann gibt es Ansätze von Kirschblüten, die mich mit ihren floralen Aromen in die Schlussszene von Sofia Coppolas Lost in Translation katapultieren. Dort, in Tokio, trifft Scarlett Johansson – alias Charlotte – noch einmal zufällig auf Bob. Die Kirschbäume blühen. Beide verabschieden sich, Bob geht langsam in der Menschenmenge unter, und sie blickt ihm lächelnd hinterher, mit Tränen im Auge.
Auch ich muss mich jetzt von dem Gericht verabschieden. Und ich gebe es zu: mir geht es ähnlich. Das Gericht aufgegessen zu haben ist ein Abschied, der schwerfällt. Ein grandioser Gang, der am Ende traurig macht: wann kann man so etwas Einzigartiges schon von einem Gericht behaupten?
Ich bin ergriffen und erschöpft, regelrecht aufgekratzt. Wieso gibt es selbst unter den besten Restaurants so wenige, die so gut sind, so unglaublich gut? Ich möchte hier wieder hin, obwohl ich noch nicht einmal abgereist bin.
Für meinen Hauptgang bringt der Kellner eine Pfanne mit Lammkarree an den Tisch. Das Stück hat eine dunkelgrüne, nahezu schwarze, Kräuterkruste. Der davon ausgehende Duft ist erneut verführerisch. Ich wehe mit meiner Hand etwas mehr von dem Duft an mich heran.
Wenig später hat der Kellner alles tranchiert und das beste Lamm meines Lebens auf dem Teller angerichtet (Carré d’agneau brûlé et épicé, € 90). Das Fleisch ist butterzart. Der Marmorierungsgrad ist vielleicht so hoch wie bei Kobe-Rind und die Textur vergleichbar zart. Die papierdünne Kräuterkruste bildet dazu einen reizvollen aromatischen Kontrast und der Jus, buttriger Bratensaft, ist mit Zitrone aromatisiert und bringt dadurch eine ansprechende Säure mit ins Spiel. Dieser Teller ist größtmögliches „Produktkino“. Jeglicher Kompromiss würde das Gericht zerstören. Gutes Lamm, sehr gutes Lamm, exzellentes Lamm: all solche Beschreibungen verpuffen angesichts der Qualität auf diesem Teller in der Bedeutungslosigkeit.
Ich kämpfe mich inzwischen schon etwas durch diese weitere opulente Portion, aber gewinne auch diesen angenehmen Kampf.
Für ein Dessert aus der Karte habe ich jetzt leider weder Zeit noch Platz, doch von Verzicht kann keine Rede sein. Zu einem starken, exzellenten Espresso serviert man drei Petits-Fours. Wie soll ich hier glaubhaft machen, dass alle drei die besten sind, die mir jemals serviert wurden? Das unscheinbarste Gebilde der drei, das weiße schaumige Gebilde mit Kokos, ist wie von einer Welt, in der andere Genussmaßstäbe gelten. Die Wolke schmeckt nach Parfüm von der Qualität eines Serge Lutens. Intensiv, einnehmend, aber vergänglich. Die Grenze zwischen Geruch und Geschmack verschmilzt, und was übrig bleibt, ist die Erinnerung. An eines der besten Essen, die ich jemals hatte.