Restaurant Überfahrt Christian Jürgens – „Vom Geschmack her so was von toll!“

Am Morgen danach – nach dem hervorragenden Abend im GästeHaus Klaus Erfort – sitze ich um halb zehn in meinem Mietwagen und programmiere das nächste Ziel meines Sechs-Sterne-Wochenendtrips ins Navigationssystem ein. Das Ziel heißt Seehotel Überfahrt und liegt in Rottach-Egern, einer pittoresken Ortschaft am Tegernsee, die so weit südlich liegt, dass München dort der hohe Norden ist.

In diesem Hotel der Althoff-Gruppe befindet sich das jüngste Drei-Sterne-Restaurant Deutschlands mit dem etwas sperrigen Namen Restaurant Überfahrt Christian Jürgens. Das Wort „Restaurant“ ist Teil des Restaurantnamens, sodass man eigentlich sagen muss, man geht im Restaurant Restaurant Überfahrt Christian Jürgens essen. Hier sagen aber alle einfach nur „die Überfahrt“. Mein Tisch in der Überfahrt ist um 19 Uhr. Für die knapp fünfhundert Kilometer habe ich also ausreichend Zeit.

Knapp fünf Stunden später fahre ich von der Autobahn ab auf eine neblige Landstraße. Nach einer Kurve lichtet sich der Nebel, und es tut sich eine eindrucksvolle Landschaft auf. Vor mir der Tegernsee, dahinter, am Horizont, die Vorläufer der Alpen. Diese Kulisse ist schon mal eine gute Einstimmung für meine Pläne am Abend.

Das Seehotel Überfahrt ist protzig-luxuriös und spießig. Eleganz und Stil sucht man vergebens, stattdessen goldene Badarmaturen, roter Marmor und ein Juweliergeschäft in der weitläufigen Lobby, in der man allerdings sehr angenehm zum Aperitif sitzt, mit Blick auf die Berge. Versalzen wird einem das Ganze durch völlig absurde Getränkepreise, wie z. B. € 25,50 für ein Glas Ruinart Rosé. Ein Glas! Die fünfzig Cent stören mich dabei eigentlich noch mehr als die fünfundzwanzig Euro. Aber natürlich hätte ich Narr vor meiner Bestellung auch einfach mal einen Blick in die Karte werfen können. Wir sind hier schließlich in … (wo bin ich noch mal?) … ach ja, Rottach-Egern.

Glücklicherweise ist es jetzt auch schon kurz vor 19 Uhr, womit ich mich endlich auf den kurzen Weg in die Überfahrt machen kann.

Das komplett in Erdtönen gestaltete Restaurant empfängt mich mit einer Aura von Ruhe und Gemütlichkeit. Keine Spur mehr von dem in die Jahre gekommenen Prunk des Hotels.

Bei einem Glas Bollinger (von dem ich in diesem Moment zum Glück nicht weiß, dass es später mit € 38 auf der Rechnung stehen wird) widme ich mich der Speisekarte, die in einem Stoffetui gereicht wird. Zwei Menüs sind darin zu finden (ca. € 200). Alle Gerichte sind, ganz zeitgemäß, auch à la carte bestellbar und können flexibel kombiniert werden. Ich brauche eine Weile, um mich zu entscheiden, möchte schließlich nichts verpassen.

Nach einiger Zeit steht meine (vorläufige) Auswahl, und ich wende mich erst einmal einem kleinen Dip zum Aperitif zu. Es handelt sich um eine Apfel-Meerrettichcreme mit gepuffter Quinoa und ist sehr schmackhaft.

Doch viel fesselnder finde ich in diesem Moment die Weinkarte, die mir gerade von Sommelière Stefanie Hehn (ehem. Jacobs Restaurant) gereicht wurde. Sie kommt in Form eines kleinen Büchleins daher und ist die schönste Weinkarte, die ich je in den Händen hielt – gerade auch, weil einige Positionen dort handschriftlich korrigiert und ergänzt worden sind. Die Leidenschaft spricht hier Bände. Und siehe da, auch das Preis-Leistungs-Verhältnis ist hier zumindest wieder marktüblich.

Meine Wahl fällt auf einen glasweisen weißen Burgunder zu den ersten Speisen (sehr gut: 2005 Domaine Emilian Gillet „Quintaine“, Viré-Clessé, € 16) sowie im Anschluss einen 2007 Chat Sauvage Pinot Noir „Rüdesheimer Drachenstein“ (€ 110) aus dem Rheingau, der schon mal neben mir in einer Karaffe atmen darf. „Zwei Pils“ bestellt der Nachbartisch zu meiner Rechten.

Und dann geht es endlich los, das Essen. Als Amuse-Bouche wird eine pochierte Auster mit Kaviar und Lauch serviert, dazu ein Döschen mit ebenfalls Imperial-Kaviar aus Israel sowie Crème fraîche, rote Bete und Perlzwiebeln. Alles zum Augenschließen gut!

Als weiteres Amuse folgt ein zunächst etwas geheimnisvolles Gebilde. Es entpuppt sich als Schinkenbrot, mit „Jahrgangsschinken“ und Trüffelschaum. Das Brot ist warm, saftig, salzig, trüfflig, süffig, herzhaft, knusprig, wohlschmeckend und betörend. Vor allem aber ist es herrlich bodenständig. Es scheint mir fast als würde Christian Jürgens mit diesem frivolen Snack das ganze (wenngleich exzellente) Getue um Kaviar, Austern und Champagner mit einer schwungvollen Armbewegung vom Tisch fegen und dabei sagen wollen: „Ist ja alles schön und gut – kann ich auch –, aber das hier, das ist lecker, oder nicht?“.

Völlig beschwingt von der Idee, Jürgens könnte die ganze Zeit so weitermachen, fiebere ich dem ersten Gang meines selbst zusammengestellten Menüs entgegen: Haralds Garten mit roter Bete, Gewürzjoghurt und Rettich.

Das Gericht ist cremig und angenehm erdig; ab und zu sorgt ein zitronig-frisches Kraut (Melisse?) für eine angenehme Frische zwischendurch. Nicht so grandios wie ein einigermaßen ähnlich konzipierter Gemüsesalat aus dem Quay vor ein paar Jahren, aber hervorragend.

Und dann macht Jürgens tatsächlich so weiter wie erhofft. Eine Köstlichkeit jagt die nächste.

Da wäre zum Beispiel das Blaukraut mit mariniertem Rotkohl, gebeiztem und gegrillten Saibling, Meerrettich, Lauch, Senfcreme und Sojamarinade. Das sieht nicht nur schön aus, sondern ist aromatisch eine wundervolle Fortsetzung der bisherigen Geschmackswelt, die sich mit einer Art „rauchigen Tiefe“ beschreiben lässt und einfach herrlich schmackhaft ist. Im Prinzip schmeckt sogar dieses Gericht ein bisschen wie das Schinkenbrot – anders natürlich, aber aus einem Guss.

https://www.youtube.com/watch?v=tws4Zwvr_aUAls liefe ich auf einem „Geschmackspfad“ entlang, fügt sich auch der nächste Gang nahtlos in die Speisefolge ein. Der Zander („Chiemsee-König“) mit Blumenkohl und Kapern-Rosinensauce hört sich nicht nur gut an (im wahrsten Sinn dank der knusprigen Haut), sondern schmeckt einfach nur zum Weglöffeln gut. Besonders gelungen ist hier auch eine leichte Säure, die durch die Kapern und, glaube ich, noch etwas Zitrusartiges ins Spiel gebracht ist. Exzellent!

Absolut zutreffend auch der Hinweis von Sommelière Stefanie Hehn, dass der von mir gewählte Rotwein bereits sehr gut zu den ersten Gängen im Menü passen würde. Die Tiefe der Gerichte passt kongenial zum (ganz ausgezeichneten) Spätburgunder. Ich nehme einen großzügigen Schluck, versacke etwas auf meiner Sitzbank und denke: genau das alles wünscht man sich von einem durchweg gelungenen Restaurantbesuch!

Auf den (ersten) Gipfel des Wohlgeschmacks treibt es Jürgens dann mit der „Kartoffelkiste“. Die bewährte Kombination Kartoffel/Ei/Salz/Trüffel wurde hier derart süffig umgesetzt, dass man sich fragt, warum die Evolution dafür gesorgt hat, dass ausgerechnet bei der Aufnahme einer solch dekadent schmackhaften Kreation körpereigene Glückshormone ausgeschüttet werden. Irgendeinen evolutionären Vorteil muss es demnach haben, so etwas zu genießen.

Als „Einstimmung zum Hauptgang“ folgt eine Consommé mit pochiertem Wachtelei, Rinderfilet, Ochsenmark und Gemüsen. Der Becher, in dem das delikate Elixier serviert wird, ist mit einer Paste aus Morcheln und Steinpilzen ausgestrichen. Auch diese zwei, drei Löffel sind mehr als hervorragend! Irgendwo muss ja auch ein großer Topf damit herumstehen …

Doch bevor ich an meinen Plan, mich in die Küche zu schleichen, weiter feilen kann, gelangt das „Ochsenschlepp“ genannte Gerichte an den Tisch. Es handelt sich um Ochsenschwanz (geschmort), Topinambur und Tofu. Auch hier wieder diese süffige Geschmackstiefe, eine wunderbare Sauce, hervorragendes Handwerk und beste Produktqualitäten. Dem Tofu kann ich allerdings auch mit größter Offenheit nichts abgewinnen – eine etwas seltsame Wahl in diesem ansonsten ganz hervorragenden Teller!

Das Dessert, „Smashed Apple“, mit Apfel, Milchschaum, Karamell und Cassis entlockt mir – ob der seltsamen Präsentation – zunächst einen skeptischen Blick. Doch nach einiger Dekonstruktion und der ersten Kostprobe dieses süßen Allerleis schwelge ich bereits im Desserthimmel. Kein Gemüse, keine Röllchen, keine Kräuter, sondern ein zutiefst den Wunsch nach etwas Süßem befriedigendes Dessert mit knusprigen, cremigen, fruchtigen und süßen Komponenten. Ein Traum!

Kaum zu glauben, dass es erst kurz vor zehn ist – meine frühe Reservierung sei Dank. Es bleibt also genug Zeit, noch ein paar Gänge dranzuhängen!

Zum Beispiel den süffigen Trüffelgang aus dem anderen Menü: „Mont Noir“ mit Périgordtrüffel, Schwarzwurzel und einem Wachtelei. Völlig ungläubig warte ich auf ein einziges Gericht, das nicht ganz und gar hervorragend ist.

Doch ich warte, zum Glück, vergebens. Borschtsch mit Leberzwieble ist genauso exzellent wie der meisterhafte Rehrücken („Blattschuss“) mit Gemüse, Zuckerwurz und einer beispiellosen Rouennaiser Sauce.

Damit geht ein Menü zu Ende, das mich zutiefst beeindruckt und regelrecht glücklich gemacht hat. Völlig abgesehen von den selbstverständlich hervorragenden Produkten und dem makellosen Küchenhandwerk, zog sich wie ein roter Faden eine herzhafte/süffige/tiefe Geschmackswelt durch das gesamte Menü, die nicht nur ganz hervorragend zu den winterlichen Temperaturen passt, sondern so durchgängig köstlich war, dass – während ich hier noch um die richtige Wortwahl ringe – der Nachbartisch das Ganze ziemlich treffend zusammenfasst: „Das war vom Geschmack her so was von toll!“.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Restaurant Überfahrt Christian Jürgens (→ Website)
Chef de Cuisine: Christian Jürgens
Ort: Rottach-Egern, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 18.01.2014
Guide Michelin (D 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)