Paul Bocuse - L’Auberge du Pont de Collonges
„Zunächst einen schönen Hasen auswählen, möglichst mit rötlichem Haar, im Gebirge oder in einer Heidelandschaft getötet, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht erwachsen. Wichtig: Der Hase muss sauber und schnell getötet worden sein, damit er nicht einen Tropfen Blut verloren hat. […] Will man den Hasen am Abend reichen, so muss man bereits am frühen Nachmittag mit den Vorbereitungen beginnen, […] wobei das Servieren für 20 Uhr vorgesehen ist.“ Dann folgt ein Plan mit minutengenauen Zeitangaben.
Welcher (Hobby-)koch kennt diese Rezepte nicht aus dem Paul Bocuse Standardkochbuch? Unzählige davon habe ich bereits genüsslich verschlungen, als wären sie Satire, und doch steckt in ihnen (bis auf eine Ausnahme: die „Holzbeinsuppe“) natürlich purer Ernst und das auszugsweise Abbild eines immensen Schaffens.
Der Meister der Meisterköche ist seit 1965 ununterbrochen mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, kann mit allen Superlativen der Gastronomie beschrieben werden und kocht, seitdem er neun ist. Heute, dreiundsiebzig Jahre später, steht er immer noch am Herd (oder zumindest im Restaurant), und ich habe um 20.30 Uhr eine Reservierung in seiner L’Auberge du Pont de Collonges.
Vorher wiederfährt mir jedoch selbstverschuldet etwas Groteskes. Gegen fünf Uhr nachmittags, äußerst hungrig von der weiten Autofahrt aus dem Bordelais und endlich angekommen im Hôtel de la Cité in Lyon, kann ich schlicht einem riesigen Berg Gnocchi mit Tomatensauce, die ich mit zwei Gläsern Rosé-Champagner (Erzeuger egal) hinunterspüle, nicht widerstehen. Ich verputze den Teller komplett. Zufrieden gesättigt lehne ich mich zurück, und da überkommt sie mich, die Panik, holt mich zurück in die Realität: Es sind nur noch knappe drei Stunden bis zum Essen chez Paul! Und es erwartet mich dort kein leichter Sommersalat …
Mit Schuldgefühlen, dem Teller Gnocchi und zwei Gläsern Champagner intus komme ich auf die abstruse Idee, meinen überschüssigen Kalorien mit einer Dreiviertelstunde Jogging am Ufer der Rhône entgegenzutreten. Ob es geholfen hat, weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall war es auch eher eine Art Selbstgeißelung, eine Bestrafung für die törichte Idee, mich vor einem seit Monaten geplanten Dîner bei Paul Bocuse mit Kartoffelklößchen vollzustopfen.
Kurz nach acht Uhr setzt uns das Taxi dann vor dem bunten Esspalast ab, die Lettern PAUL BOCUSE leuchten groß auf dem Dach. Ich habe nicht wirklich Hunger, aber das ist ohnehin nicht der Grund, warum man bei Bocuse einen Tisch reserviert. Da muss ich jetzt eben durch.
Wir treten ein, werden zum Tisch geleitet. Es ist noch ziemlich leer, und während des Gläschens Billecart Salmon Rosé (€ 20) habe ich Zeit, das gediegene Interieur in Augenschein zu nehmen. Eine detailfreudige, angestaubt-aristokratische Selbstinszenierung ist hier an der Tagesordnung. Die Initialen PB zieren das Silberbesteck; die Tellerränder sind mit dem Namen seiner Majestät, Hasen und Enten bemalt; selbst die Gläser tragen eine Gravur seines Abbilds. Der Name Paul Bocuse ist hier Programm – so vergisst man wenigstens nicht, wo man gerade speist.
Aber all diese Selbstbeweihräucherung ist hier aus meiner Sicht legitim. Wer sonst, wenn nicht er, sollte sich feiern dürfen?
So widme ich mich in Ruhe der überdimensionierten Speisekarte. Alle Gerichte sind Klassiker, es wimmelt erwartungsgemäß von foie gras, truffes, bœuf und sauce. Es ist der Himmel der traditionellen französischen Küche, jeder Hase mit rötlichem Haar findet erst hier in einer Kupferkasserolle seinen wahren Frieden.
Ich entscheide mich für das Menu Bourgeois (€ 165), wähle das Fleischgericht jedoch separat aus der Karte.Als Gruß aus der Küche wird uns ein Süppchen gereicht; was es genau war, ist mir leider später entfallen. Ein unspektakulärer Auftakt, aber ich verzeihe es irgendwie. Von Bocuse erwarte ich keine Grüße, ich erwarte Taten.
Die erste folgt sogleich: Escalope de foie gras de canard poêlée au verjus, pomme gaufrette. Ein tadelloses, äußerst großzügiges Stück gebratene Entenstopfleber, dazu karamellisierte Apfelstückchen und Trauben sowie eine dunkle Sauce mit Verjus, garniert mit einem krossen Kartoffel-Gitter (pomme gaufrette). Hierzu gibt es nicht viel zu sagen; das Gericht ist perfekt ausgeführt, die Foie Gras von beispielloser Qualität, Sauce und Früchte harmonieren hervorragend zum Rest. Möchte man ein ganz klassisches Foie-Gras-Gericht probieren, sollte man es hier tun.
In unseren Weingläsern wartet inzwischen ein 1995er Château de Fieuzal (€ 170) auf seine Entfaltung. Den Anstoß für meine Wahl gaben mir Hugh Johnsons Ausführungen über die Bordeaux aus Graves und Pessac Léognan in seinem neuen Buch Hugh Johnsons Weinwelt, das ich erst kürzlich las. Wie sich herausstellt, ist diese Wahl hervorragend, der Wein sehr elegant, mit mineralischen, floralen Noten, schwarzen Beeren und Rauch, und trotz seiner Finesse beinahe opulent.
Der zweite Gang, Turbot au Champagne, ist ein prächtiges Stück Steinbutt, obenauf etwas Luftiges — wieder aus Kartoffel, dazu Böhnchen, Champagnersauce sowie etwas von der dunklen Sauce, die, so glaube ich, gerade eben auch schon beim Foie-Gras-Gericht Verwendung fand. Der Steinbutt ist hervorragend, die Saucen sehr gut; jedoch bietet auch dieses Gericht kein herausragendes Geschmackserlebnis.
Als kleines Intermezzo wird nun ein Weineis in einem Tastevin gereicht. Die Eiskugel ist völlig belanglos.
Als ich auf den nächsten Gang warte, sehe ich ihn nun zum ersten Mal. Er ist natürlich kaum zu übersehen, mit seiner halben Meter hohen Kochmütze. Etwas buckelig, vom Alter gezeichnet, und in voller, unbefleckter, weißer Küchenmontur. Ehrfurcht überkommt mich, und dann etwas Nervosität, als der Küchengott tatsächlich in Richtung unseres Tisches kommt. Was sagt man zu Paul Bocuse? Dass das Essen schmeckt? Wir tauschen ein paar Gesprächsbrocken aus — es geht um Deutschland und die anstehende Fußball-EM (als hätte ich Ahnung von Fußball; aber er hat gefragt), kurz um sein Standardkochbuch, das ich nicht ungelobt lassen wollte —, und dann darf man auch noch kurz fotografieren. So routiniert diese Tisch-Visite für Monsieur Bocuse abläuft, ist es doch genau dieser Moment, der mir persönlich schon diese Reise wert war. In absehbarer Zeit wird dies hier nicht mehr möglich sein (ganz gleich, wer hier wen überlebt).
Es geht weiter. Das von mir à la carte bestellte Filet de bœuf Rossini, sauce Périgueux wird vor mir platziert. Mächtig und prächtig sieht es aus, die Foie Gras so breit wie das Tournedos hoch, alles überglänzt mit Sauce und Trüffeln. Mindestens fünfhundert Kubikzentimeter Rind und Stopfleber. In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir dieses Gericht nicht so dekadent vorgestellt. Die Präsentation mutet derweil beinahe schon ein wenig halbherzig an, als wolle der Teller sagen: nicht gucken, essen!
Fleisch und Foie Gras sind makellos, und auch die Saucen sind gut, aber: Sieht man sich die Saucen einmal genauer an, wirken mehrere Dinge etwas befremdlich auf mich. Zum einen ist es unübersehbar, dass die Bindung der Sauce durch ein Bindemittel wie Speisestärke erreicht wurde (man erkennt dies auch deutlich auf dem Foto, da die dunkle Sauce am Rand eine hohe Oberflächenspannung aufweist). Natürlich ist das kein unüblicher Vorgang, allerdings nicht die Art von Bindung, die Bocuse in seinen Büchern propagiert. Dort ist nämlich eiskalte Butter die einzige Wahrheit. Es enttäuscht mich natürlich der unterschiedliche Anspruch zwischen seinen Rezepten und der tatsächlichen Umsetzung hier im Restaurant.
Zum anderen wird jetzt klar, dass beide Saucen in diesem Gericht — die Périgueux sowie die andere, helle Sauce — eigentlich dieselben sind, die auch in den Gerichten zuvor Verwendung fanden. Variation kommt offenbar nur durch die Menge an Trüffeln zustande (bei der Escalope keine; beim Turbot ein wenig; und nun Sauce-Périgueux-gemäß viele). Auch die helle Sauce war die, die zum Turbot gereicht wurde. Obwohl geschmacklich nichts daran auszusetzen ist, ist dies ein kleines Armutszeugnis. Da gebe ich mir jahrelang Mühe, die richtigen Knochen anzurösten und mit dem richtigen Gemüse so lange einzukochen, bis sich der gewünschte klebrige Rand am Kochtopf absetzt, um das Ganze dann später mit eiskalter Fassbutter abzubinden — alles so, wie er es wollte! — und dann das.
Etwas enttäuscht von der Halbherzigkeit der Saucen, aber dennoch sehr zufrieden vom gesamten Geschmackserlebnis und der Qualität aller Zutaten, passt sogar noch ein kleiner Käsegang, bevor es mit dem Dessert weitergeht.
Erstaunlicherweise wählt man kein Dessert aus der Karte, vielmehr werden sämtliche Desserts mitten im Raum aufgebaut; was so seine Zeit dauert. Torten, Crèmes, Puddings, Reisspeisen, Krapfen, Kuchen, Waffeln, Schokoladendesserts, Meringen, Eis, Sorbets und Früchte — jedes Dessert mit einem Namen ist hier zu finden. Ein Schlaraffenland für Süßspeisenarren.Ich entscheide mich für einen Kuchen mit korallenähnlichem Schokoladenüberzug und eine Crème Brûlée. Beides ist gut.
Zufrieden darüber, vorwiegend sehr gut gespeist zu haben, verlasse ich später das Restaurant und sehe mir schmunzelnd noch die Wandmalereien im Innenhof an. (Auch dort kommt Monsieur nicht zu kurz.) Das Essen allein rechtfertigt nicht bedingungslos eine Reise hierhin, soviel ist sicher. Ich würde diese Reise niemandem empfehlen, der nicht seinetwegen hier einkehren möchte. Die Gerichte sind meist sehr gut und auf hohem Niveau, bieten jedoch keinerlei Überraschungen. Und ich meine hiermit keine kulinarischen Experimente — solche habe ich hier nicht erwartet —, sondern Überraschungen in Form von herausragender Zubereitung und Qualität, wie bspw. bei Bernard Pacaud.
In seinem Standardkuchbuch sagt Bocuse: „Eines Tages, ich hoffe bald, werde ich mir in dieser Gegend ein Haus kaufen. Die Küche wird ganz nach meinen Vorstellungen gebaut werden. Ich werde einen schönen Tisch aus Holz aufstellen, und wenn ich noch fit bin, koche ich täglich vier bis fünf Essen und serviere auf diese Weise die echte Küche von Bocuse. […] Ich werde also aus Freude und Freundschaft weiterarbeiten.“
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | L'Auberge du Pont de Collonges (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Paul Bocuse |
Ort: | Collonges au Mont d'Or, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 28.06.2008 |
Guide Michelin (F 2008): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |