Saga – Sirenen in der Nacht

Nachdem die komplizierteren Reservierungen für meine kulinarische Agenda in New York bestätigt waren, musste ich noch einige Lücken füllen. Eine davon war mein erster Abend in der Stadt (den späten Ankunftsabend ausgeklammert), ausgerechnet ein Sonntag. Selbst in New York ist das vergleichsweise einschränkend.

Aus verschiedenen Richtungen rückte das Restaurant Saga in meinen Fokus. Es ist eines der zwölf mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurants der Stadt und wird von dem erfolgreichen Koch und Gastronomen James Kent betrieben, ehemaliger Executive Chef im Eleven Madison Park.

Noch aufsehenerregender als diese Basisinfos ist allerdings der Standort des Restaurants im dreiundsechzigsten Stock des Art-Deco-Wolkenkratzers 70 Pine Street.

In der historischen Lobby, in der Kent noch ein weiteres Restaurant betreibt (Crown Shy), wird man an einem kleinen Empfangstresen begrüßt. Da die Reservierungsparteien alle individuell mit nur einem Fahrstuhl nach oben gebracht werden, dauert es etwas, bis man an der Reihe ist.

Knapp 250 Meter weiter oben wird man in eine andere Welt ausgespuckt. Aus dem Fahrstuhl stolpert man direkt vor einen Tresen mit einer Bar; links und rechts davon erblickt man im Hintergrund schon die atemberaubende Kulisse. Die freundlichen Barkeeper stellen vier Cocktailkreationen vor, von denen ich eine mit Champagner und Kirschblüte wähle. Mit dem Drink in der Hand kann man dann auf eine der beiden Terrassen hinausspazieren.

Dass Wolkenkratzer in New York überhaupt über Außenterrassen verfügen, ist schon selten genug – eine, auf die man ungestört mit einem Drink hinaustreten kann, dürfte (in der Restaurantlandschaft) einzigartig sein.

Das retro-schicke Interieur des Restaurants, mit lachsfarbenem Teppich und italienischen Designer-Marmortischen, wirkt heimelig, fast wie ein Wohnzimmer. Ich kann das hier alles noch gar nicht so richtig fassen. Kaum am Tisch sitzend, gemütlich auf einer Ecke mit Sitzbank, stehe ich gleich wieder auf, um von der beginnenden Abendstimmung draußen keine Nuance zu verpassen. Ich werde das ungefähr jede Viertelstunde wiederholen.

Im Saga lässt man sich auf ein festes Überraschungsmenü ein. Eventuelle Restriktionen wurden im Vorwege abgefragt und einhundert Dollar, ein Drittel des Menüpreises, schon bei der Reservierung angezahlt – vergleichsweise unkompliziert.

Aus der umfangreichen Weinkarte habe ich zum Auftakt einen offenen 2021er Chardonnay »Chacra« aus Patagonien im Glas (59 $) und danach eine Flasche 2014er Pinot Noir »Eastside Road Neighbors« des exzellenten kalifornischen Weinguts Williams-Selyem (275 $) ausgewählt. Die Karte ist auch online einsehbar, was immer sehr hilfreich ist, um langes Blättern vor Ort zu vermeiden.

Der erste Kontakt mit der Küche ist eine kühle Kreation mit bissfester Abalone, texturähnlichem Shiitake-Pilz und fruchtigem, säurebetontem Ingwerschaum – souveränes Spitzenniveau. (8,9/10)

Der offizielle Menüauftakt wird als Bento-Box beschrieben und kommt in erfrischender Form einfach zum Teilen auf den Tisch. Überhaupt ist der gesamte Gang angenehm informell. Eine Variation von herausragenden, weitestgehend naturbelassenen Meereszutaten (Abalone, Alaska-Garnele, Seeigel, Oktopus, Lachsrogen, Thunfisch, Roter Schnapper und Makrele) sieht aus wie das Mis en place in einem authentischen Sushi-Restaurant und ist von einer Qualität und Vielfalt, die man nur in einer Metropole wie New York erleben kann.

Man kombiniert die edlen Ingredienzen eigenmächtig mit separat servierten Noriblättern, etwas Kopfsalat, einem Krebsfond-Gelee und einer mit schwarzem Wintertrüffel und Topinambur gespickten XO-Sauce. In einer weiteren Box gibt es verschiedene pralinenförmig angerichtete Gemüsezubereitungen, die als Abwechslung dienen. Vom blumigen Aroma von Perilla-Blättern über den salzigen Rogen bis zum üppig-buttrigen Thunfischbauch ist dieser Auftakt schlicht sensationell. (10/10)

Während dazu im Hintergrund die blaue Stunde den Beginn des bald folgenden Lichterspektakels einläutet, kann man eigentlich nur noch sprachlos in seinen Sessel zurücksacken. Ich bin kaum vierundzwanzig Stunden hier und könnte schon berauscht und glücklich wieder abreisen.

Der zweite Gang überrascht danach etwas. Eine dessertartige Mischung verschiedener Zitrusfrüchte mit Radicchio, Meringue und gefrorener Foie Gras ist zwar vor allem dank der besonders aromatischen Früchte immer noch sehr gut, wirkt aber seltsam gekünstelt. Ich hoffe, dass das Menü nicht in diese Richtung weitergeht. (7/10)

Ein Kartoffelschaum, in dem eine Art japanisches Omelette (Tamago) »schwimmt«, setzt dann glücklicherweise die zuerst eingeschlagene Richtung ein. Die sonderbare Kreation vollendet man am Tisch mit einem à part servierten Löffel Kaviar und Jakobsmuschel-Flocken. Beides ergänzt den rauchigen Schaum und das leicht süßliche Omelette luxuriös und perfekt salzbetont. Das ist angenehm kreativ, handwerklich makellos und herausragend gut. (9/10)

Auch der nächste Gang ist mehrteilig. Auf dem Hauptteller findet man, angerichtet in einem Rinderknochen, eine Emulsion aus Knochenmark und Selleriepüree zusammen mit einem getreideartigen Cracker und saftig-aromatischem schwarzem Trüffel aus Spanien. Daneben liegt ein Spieß mit saftiger, gegrillter Selleriewurzel, die mit einer Art Apfelmus bestrichen ist.

Man hat mit diesen Zutaten ein äußerst harmonisches, erdig-herzhaftes, manchmal rauchiges Genusserlebnis, das man wiederum mit einem weiteren Teller abwechselnd genießen kann. In diesem findet man ein schaumiges Allerlei von Farro (einer alten Getreidesorte), Mascarpone, Lauch und Kastanie, ebenfalls mit dem hervorragenden schwarzem Trüffel dekoriert. Hieran ist vieles außergewöhnlich: die Zutaten, die trotz aller Überraschungen so wirken als gehörten sie schon immer so zusammen, die jeweiligen Produktqualitäten, die Kreativität – und der Genuss. Ich genieße ebenfalls die lässige – aber nicht nachlässige – Präsentation, die weder Dekoration noch Geometrie benötigt, um zu begeistern. (9/10)

Insgesamt ist die Stimmung hier oben eine einzigartige Mischung aus wohnlicher Gemütlichkeit, einem weltstädtisch-souveränen und humorvollen Service und einer Entspanntheit, die es jederzeit erlaubt, kurz aufzustehen und noch einmal nach draußen zu treten.

In dieser großartigen Atmosphäre geht es mit dem nächsten Gang weiter, einer Kreation um Hummer aus Maine.

Dessen ausgelöster Körper ist an einer würzigen Pfeffersauce angerichtet, zusammen mit etwas Topinamburpüree und einem mit Hummer gefüllten Sesambun. Auch diese Komposition ist auffällig unkonventionell, doch schafft es die Küche von James Kent dabei stets, den richtigen Ton zu treffen – nie forciert, dafür immer bedacht und genussorientiert. In diesem Fall passt die dunkle Sauce perfekt zu dem hochwertigen Hummer, da ein besonders fruchtiger, pikanter Pfeffer gewählt wurde, der das Gericht in eine exotische Richtung lenkt. Der Bun ist dabei eine Nuance zu trocken geraten, aber das Spitzenniveau wird nicht verlassen. (8,9/10)

Mit dem letzten herzhaften Gang schüttelt die Küche noch einmal alle Asse gleichzeitig aus dem Ärmel. In einem großen Kupfertopf steht eine Art Reispfanne auf dem Tisch, die neben karamellisiertem Spitzkohl und knusprig gebratenem Reis drei Zubereitungen vom Milchferkel (aus St. Canut in Kanada) präsentiert: Backe, Nacken und scharf angebratene, selbst hergestellte Morcilla, die spanische Blutwurst mit Reis. Das Gericht erinnert an Paella und zelebriert die Freude am Teilen, am Selbstportionieren und -kombinieren.

Letzteres setzt man über den Teller vor einem um, in dem drei Scheiben des gegrillten Koteletts in einer wunderbar aromatischen malaysischen Kürbis-Currysauce – mit weiteren Teilen des Spitzkohls – angerichtet sind. So schlemmt man hin und her, von einem Teller zum anderen und kombiniert natürlich auch die Reispfanne mit der aromatischen Sauce. Es entstehen dadurch zahlreiche unterschiedliche Erlebnisse am Gaumen, bei denen vor allem die verschiedenen Texturen als auch eine stets präsente Schärfe begeistern. Spitzenküche so kreativ und auf geradezu nonchalante Art zu präsentieren, ist so erfrischend wie die Luft hier oben. Ganz großes Kino. (10/10)

Und es bleibt auch zur Einleitung der Desserts originell. Ein süßer, verzaubernd aromatischer Marokkanischer Minztee begleitet einen sehr guten Keks mit Dattel, Pistazie und Orangenblüte. (7,5/10)

Das Hauptdessert ist eine Art in der Pfanne gebackener Apple crisp, also Streuselkuchen, hier jedoch mit einem sehr hohen Apfelanteil, fast wie ein Gelee. Den Kuchen, der zum Teilen auf dem Tisch steht, begleitet ein Teller mit Spiced Chai-Eis und Miso-Butterscotch-Sauce (im Bild bereits kombiniert mit etwas von dem Kuchen). Süße, etwas Wärme, Karamell und Knusper: So etwas ist zum Abschluss eines Menüs perfekt – nichts Saures, nichts Eiskaltes, nichts Pseudo-Kreatives, nicht zu viel, no bullshit eben (pardon); einfach ein wunderbar unverkopftes Dessert zum Genießen. (9/10)

Ich muss wieder raus auf die Terrasse. Längst leuchtet die ganze Stadt unter mir. Es ist gespenstisch leise für New York City, aber die Sirenen heulen hier oben immer noch. Ich könnte ihnen die ganze Nacht zuhören.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Saga (→ Website)
Chef de Cuisine: James Kent
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 17.03.2024
Guide Michelin (New York City 2023): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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