2014 – Essen, Emotionen, Erkenntnisse

Das Jahr ist noch nicht um, aber mit der Dunkelheit und Kälte kommt auch die Zeit der Rückblicke und Ausblicke. Mir ist nach einem kleinen Zwischenruf, da meine Passion für gutes Essen auch in diesem Jahr viele Bereiche meines Lebens mannigfaltig berührt hat.

Ich habe in diesem Jahr über Hundert Michelin-Sterne verkostet, dabei mehrere Zehntausend Reisekilometer zurückgelegt, neue Landschaften und Regionen entdeckt, bin in fremde Kulturen eingetaucht, habe sehr viel gutes Essen verspeist, meine Sinne geschärft, viel gelernt – und so viele mein Leben bereichernde Menschen kennen gelernt wie noch nie. Dabei wurde ich begeistert, überrascht, inspiriert, verzaubert, enttäuscht, habe gelacht und geweint, gesprochen und geschwiegen, geschrieben und zugehört, war müde und hellwach, berauscht und nüchtern. Und das Jahr ist noch nicht um, meine weitere Agenda steht.

All diese Erlebnisse sind meiner Leidenschaft Essen zuzuschreiben. Man kann das meiste davon auch mit ganz anderen Leidenschaften erleben, aber meine Triebfeder ist nun mal das Essen.

Was mich in diesem Zusammenhang am meisten beschäftigt hat, möchte ich hier etwas näher ausführen.

Unter anderem habe ich mich in diesem Jahr viel mit dem Zusammenhang zwischen Gastronomie und Kulinarik auseinandergesetzt. Die Frage Was möchte ich wo und in welchem Rahmen essen? stellt sich zwangsweise, wenn es um die Auswahl von Restaurantzielen geht, sei es daheim oder in der Ferne. Bei der Beantwortung dieser Frage stand für mich mehr denn je das Thema Reduktion im Mittelpunkt. Keine Reduktion im Sinne von Enthaltsamkeit oder geringerer Ansprüche, sondern eine Besinnung auf für mich Wesentliches. Dazu gehört für mich gastronomisch eine Umgebung, die Unbeschwertheit vermittelt statt Etikette, und kulinarisch eine Form der Küche, die kein Konzept zelebriert, sondern hervorragende Rohstoffe und vorbildliches Handwerk auf den Teller bringt.

Gastronomie

Ich habe nichts gegen Etikette oder Förmlichkeit, wenn Gäste und Personal souverän damit umzugehen wissen. Sich selbst und das Thema Essengehen nicht allzu ernst zu nehmen, sondern als Angelegenheit zu betrachten, die in erster Linie Freude machen soll, ist schon mal ein guter Anfang. Im Le Bernardin in New York zum Beispiel, das ich auch dieses Jahr wieder besuchte, ist man ohne Anzug und Krawatte zwar rigoros underdressed, aber es ist dort lebhaft, laut und lebendig, der Service persönlich und unverkrampft und das Essen auf allerhöchstem Niveau. Bei uns zulande wäre es im gleichen Restaurant flüsterleise, während die Gäste alles mögliche tun außer zu Spaß zu haben und zu genießen.

Aber Essengehen sollte Freude bereiten! Und zwar immer. Auf jedem Niveau, zu jedem Anlass und in jeder Preisklasse.

Idealerweise finde ich in einem Restaurant ein Ambiente mit freundlichem, aufgeschlossenem Personal vor, mit einer Sensibilität für das von mir in dem Moment gewünschte Maß an Privatsphäre oder Geselligkeit, Förmlichkeit oder Ungezwungenheit und eine schnelle Anpassungsfähigkeit an diese Bedürfnisse. Ich als Gast biete dafür Vertrauen in die Leistungen von Service und Küche und eine völlige Abwesenheit von Allüren und komplizierten Präferenzen. Ich habe zwar hohe Ansprüche an Essen, bin aber ein sehr einfacher Gast, um den man sich nicht besonders viel kümmern muss. Ich möchte einfach nur entspannt und gut essen. Dafür bin ich bereit, weit zu reisen und die Leistungen aller Beteiligten zu respektieren und zu honorieren.

Aber all das erwarte ich auch von den Gästen um mich herum. Was habe ich denn davon, wenn ich der einzige bin, der Spaß und Entspannung sucht und alle um mich herum mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf ihrem Teller herumstochern? Das mag ein überspitztes Bild sein, aber es trifft den Kern.

Hierzulande hat die überwiegende Mehrzahl der Restaurantgäste teilweise sehr abwegige Anforderungen an ein gastronomisches Erlebnis. Diese Anforderungen beinhalten vor allem ein starkes Geltungsbedürfnis. Der deutsche Gast möchte hofiert werden, und zwar umso mehr je teurer er essen geht. Das höchste der Gefühle ist eine Sonderbehandlung: ein Grappa aufs Haus, ein Gang außerhalb der Karte, der Besuch des Küchenchefs am Tisch, ein Rundgang durch die Küche usw. Die anderen Gäste sollen das ruhig mitbekommen! Wird so etwas erlebt, rechtfertigt das erst die höheren Ausgaben oder überhaupt den heimischen Herd verlassen zu haben. Wer das nicht glaubt, stöbere einfach ein bisschen in Bewertungsportalen wie Yelp und erfahre dort, über welche Nichtigkeiten der deutsche Gast sich dort häufig auslässt. Es geht dabei fast immer nur um vermeintliche Fehler des Personals oder um Pfennigfuchserei, niemals geht es ums Essen selbst. Ein Beispiel von dort: „Wieder einmal [ist damit] belegt, dass das Personal das Wichtigste an der Gastronomie ist – nicht das Ambiente […] und leider auch nur bis zu einem gewissen Grad die Speisen“. Die Speisen stehen für diesen Bewerter ganz am Ende seiner Prioritäten, wie auch das Ambiente. Ihm ist nur wichtig, ob der Service nach seiner Nase tanzt. Willkommen in Deutschland! Niemand wünscht sich heutzutage noch solche Gäste.

Wer so agiert, entlarvt sich nicht als anspruchsvoller Connaisseur, sondern als Kleinbürger, denn der weltoffene, moderne Gast fordert keine Sonderbehandlung. Im Gegenteil, er fordert ein Umfeld, das viel Freiraum für Individualität und eigene Bedürfnisse zulässt, und zwar nicht nur für ihn, sondern für alle Akteure in einem Restaurant – Service, Küche, Gäste –, solange alle an einem Strang ziehen.

Das ist für Serviceteams jedoch auch kein Freifahrtschein für Laissez-faire. Die Professionalität muss gewahrt bleiben, aber eben auf Augenhöhe mit dem Gast. Servilität allein ist heutzutage nicht mehr ausreichend, aber zu viel Nonchalance ist ebenfalls nicht angebracht. Das ist keine einfache Aufgabe für die Serviceteams von heute. Diejenigen, die auf diesem schmalen Grat balancieren können, sind für mich die Service-Stars unserer Zeit.

In Deutschland ist ein Wandel hinsichtlich entspannter Gastronomie bereits punktuell festzustellen, allem voran in Berlin, doch er verläuft langsam und andersherum, nämlich von den Gastronomen aus. Diese schaffen – inspiriert durch internationale Konzepte – Gaststätten mit entspanntem Ambiente und hervorragender Küche (z. B. Cordobar oder La Soupe Populaire in Berlin, Off Club in Hamburg), haben aber regelrecht Angst davor, von Restaurantführern hoch bewertet zu werden, weil sie dann eine andere Klientel befürchten, nämlich eine, die nach Förmlichkeit und Fehlern Ausschau hält. Aber diese Angst ist unberechtigt! Sollen doch diese Gäste kommen – und schnell wieder Platz für die eigentlich gewünschte Klientel machen. Was kann schon passieren? Im schlimmsten Fall wird etwas gemeckert und noch mal bei Yelp nachgetreten, im besten Fall bekehrt man sie.

Hier erwarte ich von Gastronomen in Deutschland also mehr Mut. Zieht euer Konzept so durch wie gedacht, passt euch nicht dem Mainstream an, und stellt Forderungen! Reservierungen nur x Wochen im Voraus, keine Reservierung ohne Kreditkartendaten, No-Show-Gebühren usw. Macht von vornherein klar, dass euer Gastgewerbe ein seriöses Geschäft ist und filtert damit gleich diejenigen aus, die euch und eure Arbeit nicht respektieren. Man möchte einfach nicht jeden im Haus haben. Umso unkompliziertere und verlässlichere Gäste zählen dann später zu eurer Kundschaft. Solche Dinge müssen passieren, damit die deutsche Restaurantlandschaft moderner und weltoffener wird.

Im Ausland – ganz vorn dabei: USA, England, Frankreich, Skandinavien, ja sogar Australien und Neuseeland – wünschen die Gäste schon lange (immer?) Ungezwungenheit und finden daher auch ein entsprechend ausgeprägtes Gastronomieangebot vor der Haustür. Überall dort fordert man aber noch etwas ganz anderes: Produktqualität. In Deutschland fordert man dagegen Adjektive: regional, biologisch, klimaneutral, vegan, preiswert. Aber eine gutschmeckende Artischocke, die fordert hier niemand.

Ich habe mir hier meine Nischen gesucht und einige gefunden. Aber um dieser befremdlichen Gesamtkulisse ab und an zu entfliehen, suchte ich mein gastronomisches und kulinarisches Glück auch dieses Jahr wieder viel im Ausland.

Kulinarik

Mein Wunsch nach einer Reduktion aufs Wesentliche äußerste sich in seiner extremsten Form sicherlich in meiner Reise nach Tokio, in dessen Straßen, U-Bahn-Schächte und Restaurants ich mich zum ersten Mal hineinwagte. Die kompromisslose, unvergleichliche Produktqualität und das ebenso perfektionistische, fast schon fanatische Handwerk, das ich dort erleben konnte, haben mich zutiefst beeindruckt und zählen für mich zu meinen bisher wichtigsten kulinarischen Erfahrungen.

Auch meine erneute Reise nach New York war, wie jedes Jahr, sehr bereichernd. Die vielen Millionen Einwohner dieser schillernden Stadt sind derart gastrophil und qualitätsbewusst, dass sie eine der aufregendsten, ungezwungensten und vielseitigsten Gastronomielandschaften der Welt einfach verdient haben. Überall erwartet einen hier eine weltoffene, leichte, produktorientierte und schmackhafte Küche ohne Allüren. Allüren und starre Etikette sind immer Zeichen von Unsicherheit; dort ist aber niemand unsicher, weder Gäste noch Gastronomen noch Köche.

Einige Abstecher nach Belgien standen ebenfalls auf meiner kulinarischen Agenda, weil diese Region, ähnlich wie das von mir in diesem Jahr leider völlig zu Unrecht vernachlässigte Skandinavien, in Europa derzeit viel Kreatives hervorbringt. Vieles davon ist spannend, aber mir persönlich stehen in den Benelux-Ländern etwas zu stark die Konzepte und deren Erschaffer, also die Küchenchefs, im Vordergrund, wenngleich ihnen natürlich sämtliche Anerkennung zusteht. Nichtsdestoweniger hatte ich dort eines meiner besten Esserlebnisse in diesem Jahr.

Apropos. Nachdem ich in meinem Blog inzwischen ein neues Bewertungssystem eingeführt habe, fällt es umso leichter, meine besten – und enttäuschendsten – Essen in diesem Jahr aufzulisten. Doch das Jahr ist noch nicht um, und besonders mit einigen ausstehenden Reservierungen in Frankreich hat gerade die obere Liste noch große Chancen, ergänzt zu werden.

Meine besten Essen 2014 (bisher)

[Tabelle]

… und die größten Enttäuschungen

[Tabelle]

Ausblick und Dank

Ich plane, im nächsten Jahr noch mehr über die Peripherie meiner Essensleidenschaft zu berichten. Es wird immer die Kulinarik im Mittelpunkt stehen – und mein Faible für drei Sterne und den Michelin wird weiterhin Taktgeber sein –, aber meine Erlebnisse drumherum oder abseits dieser Pfade sollen in diesem Blog auch nicht zu kurz kommen.

Ich freue mich in 2015 daher auf viele weitere bereichernde Erlebnisse, Menschen, Geschichten und Genüsse – und werde berichten! Ich danke an dieser Stelle auch allen Lesern und Kommentatoren, hier und in den sozialen Netzwerken. Es macht Spaß mit euch!

Santé!